Volltext: Der Naturarzt 1880 (1880)

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bekommen hätte, wenn die Erfahrung und Wissenschaft gezeigt hätten, daß man 
zur Behandlung der heilbaren Krankheiten keine Recepte brauche!* Oder 
haben etwa die nahezu arzneikosen Behandlungsmethoden der Prager und Wie 
ner Kliniken schlechtere praktische Resultate geliefert, als ihre Gegner? 
Gewiß nicht! Mit welcher Lust wäre man über die armen Nihilisten her 
gefallen, wenn man ihnen hätte beweisen können, daß ihre praktischen Erfolge 
auch nur um 1 Procent schlechter gewesen wären, als die ihrer Gegner! 
Uebrigens scheint uns überhaupt der Vorwurf der Negation, daß Nihilis 
mus und Pessimismus nicht in die Wissenschaft gehöre», wie es das physio 
logische Archiv früher selbst sehr deutlich gesagt hat: (I p. 652) „darum ver 
mögen wir den Vorwurf der Negativität so wenig zu begreifen, oder vielmehr 
wir begreifen ihn in seiner ganzen Nichtigkeit als einen von Solchen ausge 
gangenen, die für den kärglichen Schatz ihrer Armuth viel Schlimmes von der 
Kritik fürchten müssen und nun mit lautem Rufen der Welt glauben machen 
wollen, sie seien die Positiven. Besser thäten sie doch, in ihre versauerten 
Begriffe die Lauge einiger Negation zu gießen, damit sich das Alte trennen 
und neue Verbindungen sich bilden können. Die Berechtigung der Kritik liegt 
nicht darin, daß Einer vorher ein eigenes System gebaut, sie liegt in ihr selbst, 
in ihrem Inhalt, ihrer Wahrheit". Positiv allein ist die Wahrheit, auch 
dann, wenn sie die Negation der Wahrheit, den «schein, die Illusion, den 
Aberglauben zerstört. 
Was ist nun aber aus den stolzen Hoffnungen geworden, welche das Archiv 
bei seinem anfänglichen Auftreten geweckt hat? Nach langem beständigen Hin- 
nnd Herschwanken zwischen dem nach rücksichtsloser Wahrheit verlangenden 
Radikalismus und dem die drohenden Consequenzen desselben fürchtenden Con- 
servatismus hat der letztere gesiegt und damit die weitgehendste Empirie 
mit vollständigem Aufgeben der anfangs so gebieterisch verlangten rationellen 
Grundlage. Aber, möchten wir fragen, was ist denn bisher so Großes geleistet 
worden in der eigentlichen Heilkunde, das zu conserviren werth gewesen wäre? 
Wo sind denn, ich bitte Euch, die bewährten Heilmittel und die sicheren Heil 
methoden und Systeme, die unsere großen Praktiker hinterlassen haben? Ist 
es etwa der Dogmatismus Sydenham's, Brown's Sthenie ynd Asthenie, 
der Rasori'sche Contrastimulus, die Blutverschwendung Broussais' und 
B o u i l l a u d' s, oder etwa R i n g s e i s' frommkatholische Therapie, Hahne- 
mann oder Radcmacher, die Blütrcinigung der Chemiatrikcr, Andral's 
Hämatologie oder Engel's Krasenlehre, oder endlich der beliebte Ecclecticismus, 
der nicht kalt und nicht warm ist, dessen Anhänger über jedes neu auftauchende 
Specificum in Enthusiasmus gerathen, die zwar auf jedes neue sogenannte 
Heilmittel, das sich nur auf wenige schwankende und scheinbare Erfolge stützt, 
Jagd machen, aber auch vor allen verjährten Vorurtheilen den tiefsten Respect 
haben. — Oder sollen wir uns vor dem in der neuesten Zeit wieder beliebten 
Spccisicismus beugen, diesem bösen Geist der Medicin, der jedem Unsinn und 
jedem Schwindel, der in der practischen Medicin so reichlich zu finden ist, zu 
Gevatter stand und uns wieder in das kindliche Zeitalter der Medicin zurück 
führen möchte, wo auf der einen Seite die Krankheiten und Krankheitssymptome, 
* Vergl. R o h l f s. Die medic. Classiker Deutschlands. Marx (897). Insofern der 
Arzt in Allem, was er thut und läßt, einzig die Gesundheit Anderer im Auge hat, muß er 
es gerne sehen, wenn diese auch ohne ihn zu Stande kommt, wenn die Vollendung seiner 
Kunst nicht mehr von individueller Begabung abhängt und wenn ihre Lehren practische 
Anwendung finden in den Einrichtungen, Sitten und Gebräuchen der Völker.
	        
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