Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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die Höhe geschnellt werden, Purzelbäume machen, hernach wie 
der ausgestreckt ganz ruhig wie erstarrt daliegen, nach kurzer 
Pause aber blitzartig wieder gleich einem Igel sich zusammen 
rollen, mit den Armen agiren, dabei schrille Töne ausstoßend, 
mit Schaum vor dem Munde, wiederum rasch in die Höhe 
springen, dann sich mit dem Kopfe fast bis auf den Boden 
zurückbeugen in einem Grade, wie es mir für den Jungen 
sonst gar nicht möglich schien; dies Alles geschah mit offenen 
Augen, aber nicht mit stierem Blicke, nicht glotzend, sondern 
mit dem Ausdrucke des vollkommensten Bewußtseins, aber auch 
einer Resignation, welche sich ins Unvermeidliche fügt, weil 
doch Alles vergeblich. Er erkannte mich z. B. gleich beim 
Eintritte, wie er mir nachher sagte, „aber grüßen hätte er mich 
nicht gekonnt, denn — gefesselt sei ihm die Sprache während 
der Anfälle". Hier und da gings auch über die Bettstätte 
herab, bald Kopf, bald Ellenbogen, bald Kniee anstoßend, 
welche Theile auch ziemliche Beulen aufzuweisen hatten. In 
einem solchen Moment trat ich gerade ein und bekam den 
nicht gar kleinen fahlen Unhold an die Brust geflogen, daß ich 
umgefallen wäre, wenn nicht sein Bruder mich hinten gehalten 
hätte. Das Ganze — ein schauderhafter, wahrhaft dämoni 
scher Anblick, welcher mir so recht veraugenscheinlichte, was 
die Alten mit dem Worte „Bes essen sein" bezeichneten, ein 
Conglomerat der verschiedenartigsten Bewegungen wider Wil 
len des armen Schelmen—, mochte etwa 10 Minuten gedauert 
haben, während welcher ich an der nahen Wand lehnte und 
ruhig zuschaute, da that's noch einen Schmerzensschrei, die 
Glieder streckten sich, ein Seufzer so lang, so erbarmungsvoll 
und Mitleiden erregend entrang sich der Brust der vor mir 
liegenden Menschengestalt, daß es mir durch Mark und Bein 
ging, und — auf Einmal stand der Junge, dieses medizi 
nische Schmerzenskind, vor mir, strich sich mit den 5 Fingern 
der einen Hand die zerzausten Haare aus dem Gesichte, die 
andere mit einem freundlichen „Grüßgott" mir hinstreckend. Ich 
traute meinen Augen kaum und doch war es so! Blitzartig 
war das ganze Schreckensbild verschwunden, der Junge stand 
vor mir und ging herum wie jeder Andere seines Alters, dem 
körperlich nie was gefehlt; nur sah man ihm es an, daß sein 
gräßliches Leiden ihm zu Herzen ging, weil eben die ganze 
Bevölkerung mit Ungern aus ihn deutete, wo er sich nur 
öffentlich blicken ließ, und von seiner schauderhaften und my 
steriösen Krankheit sprach. Ich begrüßte nun auch die übrigen 
Familienglieder, namentlich seine Mutter, eine gar wackere 
Bürgersfrau, welche mich fast fußfällig bat, ihrem Sohne doch 
zu helfen von dieser schrecklichen Krankheit, die gegenwärtig 
mit jedem Stundenschlage, auf 10—15 Minuten, von 
früh Morgens 7 Uhr bis spät Abends 8 Uhr den armen 
Jungen nun über | Jahr, aller medizinischen Mittel ungeach 
tet, heimsuchte; bei Nacht habe er wohl Ruhe, doch sei sein 
Schlaf auch nicht so gut wie früher! Ich forschte nun weiter 
zurück, was dem Jungen alles passirt sei, seit ich ihn nicht 
mehr gesehen und da erfuhr ich, daß er 2 Jahre zuvor einen 
mehrmonatlichen Brusthusten gehabt, gegen welchen er vom 
vr. allerlei Arzeneien bekommen! Schon vorher bemerkte man 
an ihm, wie ich mich noch wohl erinnerte, ein viel reizbareres 
Nervensystem als bei seinen Brüdern, und eine auffallende 
Unruhe in seinen Bewegungen im Allgemeinen; dies Alles zu 
sammengehalten, war ich über die Ursache seines Leidens mit 
mir keinen Augenblick im Zweifel und auch darüber nicht, 
daß ich der besorgten Mutter, sowie dem ängstlich auf meine 
Worte lauschenden Jungen selbst, mit ziemlicher Gewißheit die 
günstigste Prognose stellen durfte, wenn gleich dies der erste 
derartige Fall war, welcher mir bis jetzt vorgekommen, und 
ungeachtet die 3 Aerzte des Städtchens und sonst noch einige 
medizinische Pfuscher vergeblich 9 Monate lang ihren ganzen 
Arzneischatz bei ihm durchprobirt hatten. Es war mir bald 
klar, daß hier meine Aufgabe sei, die ungewöhnliche Reizbar 
keit des Nervensystems herabzustimmen, den bei dem medizinisch 
behandelten Keuchhusten sicher nicht zur Ausscheidung ge 
kommenen Krankheitsstoff, welcher als abnormer Reiz auf das 
Rückenmark (direkt oder durch Reflex, wer will das entschei 
den?) einwirkte und solches nun, mittelst der dort entspringen 
den Bewegungsnerven, zur periodischen Entladung, Abschütte- 
lung rc., zu Actionen der verschiedensten Art wider Willen 
des Kranken veranlaßte, nach und nach zur Lösung, Re 
sorption und Ausscheidung zu bringen; ferner durch direkte 
Bethätigung der Muskeln, mittelst methodischer Gymnastik, der 
Natur gleichsam ein xraevsuirs zu spielen und sie so zu 
zwingen, ihr possirliches, dem Kranken lästiges und auf die 
Dauer seine Nervenkraft verzehrendes Muskelspiel aufzugeben. 
Mein Curplan war daher schnell gefaßt, den Leuten mitge 
theilt, und sofort wurde an's Werk geschritten. Es war 
Nachmittags nach 3 Uhr gewesen, als ich angekommen. Wäh 
rend unserer Debatten war geraume Zeit verstrichen und es 
schon nahe bei 4 Uhr, wo ein neuer Anfall zu erwarten. 
Diesem wollte ich zuvorkommen und legte sofort den Kranken 
nach vorheriger kräftiger nasser Abreibung im warmen Zim 
mer in die feuchte, etwas lockergehaltene Wicklung; kaum war 
dieselbe sachgemäß geschehen, als vom nahen Glockenthurme 
das erste Viertel der vierten Nachmittagsstunde ertönte und 
— auch der Anfall prompt sich einstellte wie —telegraphirt! 
Der Dämon mag sich aber schön verwundert und getäuscht 
gesehen haben, als er diesmal seinen Tributpflichtigen so ge 
bunden vorfand, denn — mit d en Sprüngen und Pur 
zelbäumen war's jetzt aus und der Paroxysmus be 
schränkte sich auf die tollsten Grimassen im Gesicht und ein 
unruhiges Hin- und Herwälzen des ganzen Körpers, soweit 
es überhaupt noch möglich war; ich hatte nämlich mit Gurten 
querüber allem Uebermuthe vorgebeugt. Ebenso war es um 
5 und um 6 Uhr, wo jedesmal mit dem ersten Viertel- 
Glockenschlag der nahen Kirchenuhr der Anfall wie verhext 
eintrat. Nachdem ich den um 6 Uhr noch abgewartet und 
den Kranken dann ziemlich feucht im Gesicht gefunden hatte, 
nahm ich ihn heraus und gab ihm ein Halbbad in der Tem 
peratur von 22—18" L. mit oftmaliger Uebergießung und 
in der Dauer bis zum leichten Schüttelfrost; hernach ließ ich 
ihn ins Bette gehen, gut zudecken, nach erfolgter Wiederer 
wärmung mit einem dicken feuchten Rumpfumschlag, der die 
ganze Nacht liegen blieb, versehen und ein Klystier von f 
Schoppen 16" Wasser geben. Als Abendbrod 1 Glas süße, 
kuhwarme Milch und altbackenes Hausbrod. Meine Verord 
nung auf die nächsten 8 Tage war (es war zwischen seiner 
Mutter und mir ausgemacht worden, daß ein genaues Tagebuch 
geführt und jeden Sonntag früh eine Copie davon an mich 
gesandt und, bis zum Empfange meiner Antwort darauf, kon 
sequent der ersten Verordnung gemäß fortgefahren werde) fol 
gende: Morgens um £ auf 7 Uhr (also vor dem ersten An 
falle) feuchte Wickelung bis nach 9 Uhr, hierauf abgeschreck 
tes Halbbad bis zum leichten Schüttelfrost, hernach in's Bett 
zurück bis zum Guterwärmen; nach 10 Uhr Frühstück — 
süße laue Milch und Brod; nach 11 Uhr ein kleines Klystier 
von 16" Wasser und sofort Spatziergang in's Freie bis vor 
12 Uhr. Nach 12 Uhr zur Mittagskost dicke beliebige Suppe, 
ein Stückchen gekochtes oder gebratenes Fleisch und Gemüse
	        
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