Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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es auch für Unrecht, wenn Jemand, (scheinbar) durch Arznei 
gesund geworden, den etwa übrig gebliebenen Rest der betr. 
Arznei nicht aus Dankbarkeit auch noch nachträglich zu sich 
nehmen wollte. In ihrem Eifer ließ sie sich oft selbst herbei, 
das gute Bischen Sache nicht umkornmen zu lassen. Nach den 
ersten Wochenbetten begannen diese Conflicte zwischen Emilien 
und ihrer Schwiegermutter schon ernsterer Art zu werden, 
und Neuborn hatte bisweilen Veranlassung, in seiner gut 
müthig derben Weise zwischen Beiden zu schlichten, was ge 
wöhnlich so vor sich ging, daß er die großen allopathischen 
Hausmittel-Bullen oder Pflaster, Senfteiche u. s. w. der 
Mutter zu dem einen und die kleinen homöopathischen Fläsch 
chen und Pülverchen Emiliens, die diese aus ihrer stets pa 
raten homöopathischen Hausapotheke holte, zum andern Fenster 
hinauswarf. Dies ging indeß, wie gesagt, nur so lange, als 
nicht ernstere Vorkommnisse eine faktische Entscheidung Neu- 
born's für die eine oder andere Heilmethode nöthig machte, 
und diese blieben nicht aus. Einige Bräune-Anfälle, welche 
kurz hintereinander den erstgeborenen Sohn, Oscar, befielen, 
nöthigten Emilien, ihrem Gatten nachzugeben und, wenn auch 
mit schwerem Herzen, Blutegel anlegen sehen zu müssen. Als 
nun im nächsten Winter vollends die Masern, wiewohl ziem 
lich gutartig, im Dorfe einzogen, denen sich später auch der 
Keuchhusten zugesellte, und auch Neuborn's Kinder davon be 
fallen wurden, da kam der allopathische Arzt aus dem Land 
städtchen lange Zeit fast nicht mehr aus dem Hause, und 
wenn er fehlte, so vertrat ihn der dazu beauftragte, im Dorfe 
selbst wohnende Chirurgus. Emilien blutete da manchmal 
das Herz, wenn sie ihre Lieblinge so reichlich mit den sie un- 
gemein belästigenden warmen Umschlägen um Hals und Brust 
und mit Senfteigen geplagt, oder innere Schwitzmittel, ja, die 
kräftige Constitution ihres Oscar bei einigen stärkeren Affec- 
tioncn der Brust — mit Brechmitteln und wieder sogar mit 
Blutentziehungen behandelt sah. Wie oft bat sie den Gatten, 
mit ihren kleinen Fläschchen und Tröpfchen der Pulsatilla, 
des Aconit, der Belladonna oder Bryonia nahen zu dürfen: 
aber er hielt sich streng an die Gebote des Doctors und war 
nicht zu erweichen. — Freilich mußte er selbst bemerken und 
zugeben, daß sich die Krankheitszustände sehr in die Länge 
zogen und daß das Aussehen der kleinen Patienten ein recht 
schlimmes, auf langes Kränkeln schließen lassendes gewor 
den war. 
Um die Zeit der bösesten Krankheitsperiode traf es 
sich, daß Emiliens Bruder, der Wasserfreund, mit zwei seiner 
Kinder zu kurzem Besuche ankam. Dieser, selbst im Besitz 
einer zahlreichen Familie, gab sich alle erdenkliche Mühe, den 
Schwager von der nach seiner Ansicht unrichtigen Behand 
lungsart der kranken Kinder zu überzeugen, und führte zum 
Beweise seiner Behauptungen aus seinen im eigenen Familien 
kreise gemachten Erfahrungen mehrfache Beispiele eines ent 
gegengesetzten Verfahrens an, welches er die Naturheilmethode 
nannte , verwies auch den Zweifler auf die Erfolge, welche 
die mitanwesenden Kinder factisch repräsentirten. Letztere 
waren zwar nicht von dem hochblühenden Aussehen, welches 
vordem den Neuborn'schen Kindern eigen gewesen war; sie 
waren auch nur mäßig fleischig in ihren Muskeln und ihre 
Farbe nicht so stark roth; aber das Fleisch war derb, überall 
gleichmäßig blaßroth und Behendigkeit und Ausdauer sprach 
aus ihren Bewegungen. Neuborn hatte aber schon gegen die 
Lebensweise, die ihm der Schwager als in seiner Familie 
eingehalten darlegte, vieles einzuwenden, und was vollends 
die von diesem gerühmte selbstständige Behandlungsart in 
Krankheiten nach den angeblichen Regeln der Naturheilmethode 
betraf, so hielt er solche überhaupt nur in einer größeren 
Stadt für möglich, wo man die Aerzte haben könne, wie man 
wolle; auf dem Lande, meinte er, müsse man Gott danken, 
wenn man einen allopathischen Doctor nicht gar zu weit be 
sitze, und er wolle sich wohl hüten, den seinigen durch Selbst 
pfuscherei in das ärztliche Handwerk vor den Kopf zu stoßen. 
Adolph, so hieß Emiliens Bruder, wollte das zwar 
durchaus nicht Wort haben, daß zur Behandlung der ge 
wöhnlichen acuten Fieber- und Entzündungskrankheiten in den 
Familien ein Arzt unbedingt nöthig sei, und führte sich selbst 
als Beweis des Gegentheils davon an, indem er, Kaufmann, 
doch ganz selbstständig bei solchen Vorkommnissen innerhalb 
seiner vier Pfähle handle und einen der professionellen Natur 
ärzte der Stadt in der Regel nur erst nachträglich consultire, 
um einen Ideenaustausch mit ihm und dabei Gelegenheit zu 
haben, seine Ansichten und sein Wissen, soviel wie möglich, 
immer mehr zu berichtigen und zu bereichern. Aerzte — sagte 
er — muß und wird es zwar immer geben, und wollte Gott, 
es gäbe namentlich recht viele Naturärzte, weil nicht Je 
dermann Zeit, Lust, Mittel und Geschick hat zur Erlangung 
der Kenntnisse, welche freilich auch zur naturärztlichen Behand 
lung von Krankheiten gehören; aber möglich ist diese Selbst 
behandlung für den Familienvater, auch gar nicht so schwierig 
zu erlernen, und nü'tzlichim höchsten Grade für jede 
Familie, ganz besonders aber für die auf dem Lande. — In 
deß Neuborn war nicht zu überzeugen, daß dies, gerade auf dem- 
Lande, durch zuführen sei, wollte auch von den Büchern nicht 
viel wissen, aus denen, nach Adolphs Behauptung, jeder Familien 
vater und jede Familienmutter die nöthigen Belehrungen sich nach 
und nach aneignen könne. Emilie dagegen lauschte gerade auf 
diese Hindeutung ganz besonders- und erreichte endlich bei 
ihrem Gatten wmigstens soviel, daß Adolph einige der an 
geführten Lehrbücher über Naturheilkunde, und deren Aus 
übung im Familienkreise, nach seiner Rückkehr dem Schwager 
zuzusenden beauftragt wurde, wenn sich auch Neuborn selbst 
keineswegs verbindlich machen wollte, sie zu lesen oder gar zu 
studiren — was Adolph allerdings für nothwendig erklärte. 
Die versprochenen Bücher trafen auch bald nach Adolphs 
Abreise pünktlich ein, wurden aber von Neuborn — in den 
Schrank gelegt. Indeß Emilie holte sie, erst verstohlen, spä 
ter aber, nachdem die Kinder genesen und die Noth vorüber, 
auch der Doctor ganz oder doch auf Wochen fort war aus 
dem Hause, selbst mit ausdrücklicher Genehmigung ihres Gat 
ten wieder hervor, und es war kurios und rührend zugleich 
anzusehen, wenn sie, im Stall an dem großen Milcheimer 
sitzend, worein die frischgemolkene Milch quartweise eingemes 
sen wurde, in den Zwischenzeiten der Ablieferungen Seiten 
der Mägde, bald eins der Rausse'schen Wasserbücher oder das 
von Munde oder vr. Sachs, eben so oft auch Vanoni's Na 
turarzt oder eine Schrift von Cybulka aus der Tasche her 
vorzog und die freien Augenblicke mit eifrigem Lesen aus 
füllte. Neuborn stichelte wohl manchmal, daß er die Classiker, 
welche im eleganten Glasschrank des guten Zimmers aufgestellt 
standen, nunmehr, wie es schien, umsonst angeschafft habe; 
aber Emilie meinte, die liefen nicht davon, während die Zeit 
es allerdings thue und gar leicht wieder einmal Umstände 
eintreten könnten, wo sie es dann schmerzlich bedauern würde, 
wenn sie jener herrlichen Bücher Wahrheit sich nicht zu eigen 
gemacht. Zuletzt wurde zlvischen den beiden Eheleuten gar 
nicht mehr über die Bücher der Naturheilkunde gesprochen; 
Emilie verwahrte sie im oberen Aufsatze ihres Seeretairs und
	        
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