Volltext: Irredenta-Politik [55]

Diese Schamade Rußlands war auch für Italien das 
Zeichen zur Abrüstung, denn ohne russische Lilfe, bloß auf die 
Serbiens und Montenegros angewiesen, wagte es den Äberfall 
auf den Bundesgenossen doch nicht und steckte den schon gezückten 
Dolch wieder in die Scheide. 
Noch hatte die Irredenta somit ihr vorläufiges Ziel, den 
Krieg gegen die Monarchie, nicht erreicht; aber nur mehr die 
Weite eines Flintenschusses trennte sie von ihm, und sie durfte 
sich über die Nichtverwirklichung ihres Wunsches damit trösten, 
daß dessen Erfüllung nur aufgeschoben, keineswegs aufgehoben 
war; hatte doch selbst ein so vorsichtiger Staatsmann wie Giolitti 
durchblicken lassen, daß er im Grunde seines Äerzens dasselbe 
Ziel im Auge hatte wie die Irredenta. 
Daß die Worte Tittonis nicht etwa bloß beschwichtigende 
Phrasen gewesen waren, mit denen er den ihm hart zusetzenden 
Irredenlisten hatte entschlüpfen wollen, sondern daß sich zwischen 
Italien und Rußland tatsächlich Beziehungen geknüpft hatten, die 
für Österreich-Angarn nichts Gutes bedeuteten, das sollte sich 
noch im selben Jahre — 1909 — zeigen, als der Zar sich im 
November nach Racconigi zum Besuche König Viktor Emanuels 
begab, wobei er, um nur ja keinen Fußbreit österreichischen 
Bodens zu berühren, die Reise dahin auf einem ungeheuern Am¬ 
weg machte. Der demonstrative Jubel, mit dem man ihn nach 
diesem drastischen Beweise für seine feindselige Gesinnung Öster- 
reich-Angarn gegenüber in Italien empfing, sprach Bände, und 
schon die Tatsache dieses Besuches bedeutete einen neuerlichen 
Triumph der Irredenta. 
Eine andere beredte Probe für die Stimmung, die damals 
in Italien herrschte, gab die Rede, die Generalleutnant Asinari, 
der Kommandant des III. (Mailänder) Armeekorps, am 11. No¬ 
vember 1909 bei der Weihe der Standarte des neu errichteten 
Kavallerieregiments „Aquila" in Brescia hielt und in der er von 
der Befreiung der unerlösten Gebiete sprach, die auf die Lilfe 
der italienischen Soldaten warteten. 
Diese rhetorische Entgleisung hatte für den ungeduldigen 
General allerdings zunächst die unangenehme Folge, daß er seiner 
Stelle enthoben wurde, aber diese notgedrungene Maßregelung 
machte ihn erst recht zum Leiden des Tages: waren seine Worte 
doch nur der Ausdruck der Gefühle ganz Italiens, soweit es 
politisch in Betracht kam. 
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