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Der Feldzug von Brest-Litowsk
Betrachtungen über die Sommeròiïensive 1915
Mit der Einnahme von Brest-Litowsk sollte die große Offensive der
Verbündeten zwar noch nicht ihr Ende erreicht haben; doch war sie an
einem geographisch höchst bedeutsamen Abschnitte angelangt, an dem
Westrand des „Polesie" genannten gewaltigen Wald- und Sumpfgebietes,
das sich nunmehr auf viele Tagmärsche quer über das Kriegstheater
legte, und dem in Friedenszeiten Freund und Feind die Eignung zum
Manövrierland völlig abgesprochen hatten.
Weder Falkenhayn noch Conrad, jener noch weniger als dieser,
hatten, als sie im April 1915 den Stoß von Gorlice beschlossen, eine
Kriegshandlung von solch gewaltigen Abmessungen, wie sie nun hinter
den Verbündeten lag, im Auge gehabt. Conrad war gegenüber den
Russen grundsätzlich wohl von ernstem Vernichtungswillen erfüllt ge¬
wesen, aber er hatte noch in seiner Denkschrift vom 7. April der be¬
stimmten Meinung Ausdruck verliehen, daß ein entscheidender Erfolg
gegen das Zarenheer nach wie vor nur durch weitausholende Umfas¬
sungen von den Karpathen und von Ostpreußen her (S. 301) zu erzielen
sei. Wenn er trotzdem einige Tage zuvor gegenüber dem GM. Cramon
schon einen Angriff bei Gorlice angeregt hatte, so hatte er dabei im,
Wesen nur an eine taktische Entlastung der Karpathenfront gedacht.
Falkenhayn wollte dem Durchbruch von Gorlice wohl von Anbeginn
eine größere Auswirkung sichern, aber auch er hatte nur das Erreichen
begrenzter Ziele im Sinne — wie etwa die Gewinnung des Sanflusses.
Es hatte dann auch weiter bei beiden Generalstabschefs stets neuer,
oft mühsam abgerungener Entschlüsse bedurft, ehe die Kriegshandlung
zu voller Reife gedieh. Man erinnere sich nur der unerhört schweren
Gewissenslast, die Conrad in den Tagen der Kriegserklärung Italiens
auf sich nehmen mußte.
Aus dem Blickfeld der obersten Führung zerfällt der große Feld¬
zug in zwei scharf geschiedene Phasen. Der Vorstoß vom Dunajec über
Przemysl bis Lemberg stellt sich dem rückschauenden Beurteiler als un¬
mittelbare strategische Auswirkung des Durchbruches von Gorlice dar,
und es darf hier sicherlich gefragt werden, ob der Erfolg dieser Offen¬
sive kein größerer gewesen wäre, wenn sich die Führung der Mittel¬
mächte von Haus aus die Gewinnung der Hauptstadt Galiziens als Ziel
gesteckt oder zu stecken vermocht hätte1). Dabei mag freilich zu be-
*) Moser, Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg (Stuttgart 1925), 115 ff.