724 Der Feldzug von Brest-Litowsk Betrachtungen über die Sommeròiïensive 1915 Mit der Einnahme von Brest-Litowsk sollte die große Offensive der Verbündeten zwar noch nicht ihr Ende erreicht haben; doch war sie an einem geographisch höchst bedeutsamen Abschnitte angelangt, an dem Westrand des „Polesie" genannten gewaltigen Wald- und Sumpfgebietes, das sich nunmehr auf viele Tagmärsche quer über das Kriegstheater legte, und dem in Friedenszeiten Freund und Feind die Eignung zum Manövrierland völlig abgesprochen hatten. Weder Falkenhayn noch Conrad, jener noch weniger als dieser, hatten, als sie im April 1915 den Stoß von Gorlice beschlossen, eine Kriegshandlung von solch gewaltigen Abmessungen, wie sie nun hinter den Verbündeten lag, im Auge gehabt. Conrad war gegenüber den Russen grundsätzlich wohl von ernstem Vernichtungswillen erfüllt ge¬ wesen, aber er hatte noch in seiner Denkschrift vom 7. April der be¬ stimmten Meinung Ausdruck verliehen, daß ein entscheidender Erfolg gegen das Zarenheer nach wie vor nur durch weitausholende Umfas¬ sungen von den Karpathen und von Ostpreußen her (S. 301) zu erzielen sei. Wenn er trotzdem einige Tage zuvor gegenüber dem GM. Cramon schon einen Angriff bei Gorlice angeregt hatte, so hatte er dabei im, Wesen nur an eine taktische Entlastung der Karpathenfront gedacht. Falkenhayn wollte dem Durchbruch von Gorlice wohl von Anbeginn eine größere Auswirkung sichern, aber auch er hatte nur das Erreichen begrenzter Ziele im Sinne — wie etwa die Gewinnung des Sanflusses. Es hatte dann auch weiter bei beiden Generalstabschefs stets neuer, oft mühsam abgerungener Entschlüsse bedurft, ehe die Kriegshandlung zu voller Reife gedieh. Man erinnere sich nur der unerhört schweren Gewissenslast, die Conrad in den Tagen der Kriegserklärung Italiens auf sich nehmen mußte. Aus dem Blickfeld der obersten Führung zerfällt der große Feld¬ zug in zwei scharf geschiedene Phasen. Der Vorstoß vom Dunajec über Przemysl bis Lemberg stellt sich dem rückschauenden Beurteiler als un¬ mittelbare strategische Auswirkung des Durchbruches von Gorlice dar, und es darf hier sicherlich gefragt werden, ob der Erfolg dieser Offen¬ sive kein größerer gewesen wäre, wenn sich die Führung der Mittel¬ mächte von Haus aus die Gewinnung der Hauptstadt Galiziens als Ziel gesteckt oder zu stecken vermocht hätte1). Dabei mag freilich zu be- *) Moser, Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg (Stuttgart 1925), 115 ff.