Volltext: Was ist Bewusstsein?

bedürfnisgesteuerten Bindung des Säuglings/Kleinkindes an seine Mutter. Sie bildet die Grundlage und den Kontext dafür, dass es durch Zeigen und Vorsprechen bzw. Nachahmen zur sprachlichen Identifikation eines Objektes kommen kann, mit dem der Säugling von Anfang an vertraut ist, nämlich seiner Mutter. 'Mama' (im Fall des Deutschen), bzw. sein jeweiliges Äquivalent in anderen Sprachen, ist wohl das erste Wort, die erste bedeutungstragende Lautformation, die ein Säugling/Kleinkind lernt. Die erste, paradigmatische, lautliche Äußerung, die auf ein Objekt bezogen ist, die etwas meint, und zugleich die Grundlage für das Lernen der Sprache, die sprachliche Erschließung der Welt.462 So wäre jedenfalls im Prinzip die Entwicklung von Sprache auf ontogenetischer Ebene verstehbar. Ich habe hier allerdings, um ein möglichst genaues Bild der Vorgänge zu entwickeln, den größeren Zusammenhang der sozialen Gruppe ausgeblendet, der natürlich für die Entwicklung der Sprache, d.h. für die Antwort auf die eigentliche Frage nach dem Ursprung der Sprache selbst entscheidend ist. Ausgehend von den Faktoren der Brutpflege und der besonderen Gefährdetheit des menschlichen Neugeborenen durch seine lange Abhängigkeit von der Mutter, müsste man dazu die Situation der gegenseitigen oder geteilten Aufmerksamkeit auf die soziale Gruppe übertragen, und zwar einerseits durch die Erweiterung des Bildes auch auf die Rolle des Vaters und die Notwendigkeit des Schutzes (der Aspekt nicht nur der Sorge 'für', sondern auch der Sorge 'um' den Nachwuchs) durch die Gruppe. D.h. dass eben die besondere Prekarität der Situation des Menschen (die auch mit der langen Dauer der erforderlichen 'Brutpflege' zusammenhängt) von vorne herein durch eine noch stärkere Organisation in Gruppen kompensiert werden musste. Situationen der Gefahr oder der Beschaffung von Nahrung waren beim Menschen wohl von vornherein nur durch die Gruppe zu bewältigen und man könnte die für die Bedeutung, den semantischen Gehalt von lautlichen Äußerungen konstitutive Situation der gegenseitigen Aufmerksamkeit verbunden mit dem deiktischen Element des Deutens jedenfalls in Situationen der Gefahr oder der gemeinsamen Jagd sehen.463 Rekapitulieren wir von diesem Standort aus noch einmal kurz die Stufen der Entwicklung des Bewusstseins als Schnittstelle zwischen dem Organismus und seiner Umwelt. Es ist das Phänomen der Referenz, das in je verschiedener Form alle Stufen dieser Entwicklung charakterisiert. Und es ist die Dependenz des Organismus, seine prekäre Autarkie, die diesem Phänomen zugrunde liegt. Ausgehend von der punktuellen Referenz in Form des spezifizierten Reizes auf Ebene der Zelle über die organisierte ('flächige') Referenz in Form der Aufnahme von Stoffen und Energie aus der unmittelbaren Umgebung des Organismus, hatten wir es auf Ebene der unipolaren Referenz mit einer – durch Koordinatenbildung im Gehirn in unmittelbarem Zusammenhang mit Bewegung – räumlich, wahrnehmungsstrukturierten Beziehung auf die Umwelt (als Nahrungsquelle) zu tun. Alle diese Ebenen sind gekennzeichnet von eine direkten, unmittelbaren Beziehung des Organismus auf seine Umwelt, ohne zwischengeschaltete Faktoren, es verändern sich nur Nahrungsquellen, und damit in Verbindung die Ausbildung von Organen sowie die innere Organisation und Koordination des Organismus. Auf der Ebene der multipolaren Referenz zeigte sich ein erster (noch zeitlich beschränkter) Bruch dieser Unmittelbarkeit in Gestalt der Brutpflege. Die Eltern nehmen für die diese Kooperation Prozesse geteilter Intentionalität beinhaltet.“ (Tomasello, M. (2011), S. 83) 462 Es erscheint einigermaßen paradox, dass ausgerechnet dasjenige, was für die meisten Philosophen, die implizit oder explizit von der Vorstellung autonomer Subjekte in irgendeiner Form ausgehen, aus prinzipiellen Gründen das Paradigma der Nicht-Kommunizierbarkeit erfüllt, nämlich die inneren, privaten 'Zustände' (Bedürfnisse, Gefühle etc.), im Grunde genommen die Wurzel von Kommunikation und Sprache bildet, die Wurzel für die vermittelte Identifikation von Objekten. Der Grund dafür ist insofern einleuchtend, als es eben nicht der Kontext der Erkenntnis ist, in dem Sprache gelernt wird, sondern der Kontext der Bedürfnisse und der damit zusammenhängende Handlungskontext. 463 In Bezug auf dergleichen 'empirische' Fragen sind wir natürlich auf archäologische Befunde und Hypothesen angewiesen, und man muss wohl davon ausgehen, dass ontogenetische Faktoren und damit zusammenhängende Umstände in größerem Rahmen von Anfang an in einer Weise zusammenwirken, die schwer aufzutrennen ist. Doch entscheidend sind ohnehin nicht solche Spekulationen, sondern die prinzipielle Einsicht, dass es der Faktor Angewiesenheit ist, der die Grundlage für das Entstehen von sprachlichen Formen der Kommunikation bildet. 141
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