Volltext: Was ist Bewusstsein?

tierischen Bewusstseins bezeichnet hat. Das Individuum kommt in seiner Welt nicht vor, eben darum ist diese bloß Umwelt.450 Was sich in der Brutpflege ereignet ist das zaghafte, schrittweise Heraustreten bzw. Herauslösen aus dieser Zentralität. Es bildet sich ein Bezugsrahmen, in dem das Individuum selbst 'als dieses' auftaucht, im 'Sich-bemerkbar-machen', im Heischen um die Aufmerksamkeit der Eltern. Auch dieses Verhalten ist natürlich instinktgesteuert und kann ganz verschieden ausgeprägt sein. Dennoch bildet es die Basis für eine Entwicklung, die eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Die soziale Dimension der Bezugnahme schafft den Raum für primitive, situationsgebundene Formen der Kommunikation.451 Diese wirkt ihrerseits wieder zurück auf die soziale Ebene, die Gruppen- oder Rudelbildung etc.452 Was bedeutet das nun in Bezug auf die Schnittstelle des Organismus, das Bewusstsein? Wir haben die unipolare Referenz des tierischen Organismus – auf der Grundlage seiner Dependenz – mit der Bewegung und der damit verbundenen notwendigen Koordination in Zusammenhang gebracht, die wiederum zum Aufbau von Koordinaten durch das zentrale Nervensystem bzw. das Gehirn führt, Koordinaten, die unmittelbar in die Wahrnehmung einfließen, wodurch die Schnittstelle eine räumliche Plastizität gewinnt. Zu dieser tritt nun mit der multipolaren Referenz gewissermaßen eine (soziale) Stereo-Komponente, der Raum, die Umwelt, wird gewissermaßen mit anderen Individuen geteilt (wie immer sich diese Teilung auch darstellen mag).453 Es gibt aber noch einen zweiten, mindestens ebenso bedeutenden Aspekt in diesem Heraustreten aus der Zentralität, nämlich den Zusammenhang mit Denken. Die intelligenten Leistungen von höheren Tieren, insbesondere Menschenaffen, aber auch Delfinen oder Vögeln, insbesondere Rabenvögeln, sind von Ethologen vielfach beobachtet und erforscht worden und sie stehen offenbar in einem gewissen Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Selbstidentifizierung auf Körperebene. Da es dazu umfangreiche Literatur gibt möchte ich hier nicht näher darauf eingehen. Von Interesse für meine Argumentation ist aber der prinzipielle Zusammenhang, der offenbar zwischen dem intelligenten Verhalten und der Fähigkeit zur Selbstidentifikation gegeben ist.454 Etwas, das sich ontogenetisch in der Entwicklung des Kleinkindes bzw. Säuglings, zu wiederholen scheint, wie insbesondere Jean Piaget gezeigt hat.455 Um diesen prinzipiellen Zusammenhang zu verstehen, ist es meines Erachtens aber wichtig, dabei genau zu differenzieren und nicht nur allgemein von Intelligenz oder intelligentem Verhalten zu sprechen,456 denn Intelligenz ist im Grunde genommen ein Grundzug jeder Form von Leben.457 Intelligentes Verhalten ist unabhängig von Denken, aber Denken bedeutet 450 Die unipolare Referenz bzw. das unipolare Referenzsystem ist gewissermaßen auch die Basis für die Vorstellung der Autonomie des Organismus, und in angereicherter Form auch für die klassische Subjektvorstellung. 451 Natürlich kann man die Wurzel der Kommunikation, wie schon erwähnt, noch tiefer ansetzen, nämlich bei der Bezogenheit von Individuen auf Individuen der gleichen Art, die nicht dem Beuteschema gehorcht, die überhaupt nicht der Aufrechterhaltung der Autarkie des Individuums dient, sondern seiner Fortpflanzung und Ausbreitung, also in der Sexualität. Insbesondere das Bruftverhalten zeigt bei vielen Tieren eindeutige Züge von Kommunikation. Dieses Verhalten hat allerdings nur ephemeren Bestand. 452 Auch die Domestikation kann man unter diesem Aspekt als eine Sonderform der situationsgebundenen Kommunikation betrachten. 453 Wichtig ist dabei noch einmal zu betonen, dass alle Stufen der Referenz, von denen wir gesprochen haben, ineinander greifen und gleichzeitig im Individuum präsent sind: die einzelnen Stufen werden nicht abgelöst, sondern 'aufgehoben'. 454 Vgl. Winterhager, E. (2015), S. 49f. 455 Vielleicht könnte man das Vorhandensein von Ansätzen von Selbstbewusstsein und damit auch von intelligentem Verhalten auf tierischer Ebene mit dem spielerischen Verhalten von Jungtieren in Verbindung bringen. Die Abhängigkeit von den Eltern schafft den Raum für ein von den unmittelbaren Bedürfnissen entkoppeltes Verhalten. Auch das Buhlen um die Gunst der Mutter könnte hier eine Rolle spielen. 456 Das undifferenzierte Sprechen von Intelligenz in allen Potenzformen beruht meines Erachtens darauf, dass man Intelligenz ganz allgemein als Leistung des Gehirns betrachtet, und das Gehirn selbst gewissermaßen als autonomes Organ. 457 Alles Leben ist intelligent, denn das Überleben, die Aufrechterhaltung der prekären Autarkie, ist schließlich der Maßstab der Intelligenz, gewissermaßen deren 'Ur-Meter'. Man könnte den Unterschied von Intelligenz und Denken 137
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.