Volltext: Was ist Bewusstsein?

III. Selbstbewusstsein und Denken 3.1 Die klassische Problemstellung „Was die Reflexion findet, scheint schon da [gewesen] zu seyn.“437 Wie schon angekündigt möchte ich mich nun, im dritten Teil, der Frage nach der Möglichkeit und der Entstehung von Selbstbewusstsein als Grundlage des menschlichen Weltbezugs, des menschlichen Bewusstseins, zuwenden, denn dieses ist es ja, von dem die üblichen Bewusstseinstheorien gewöhnlich ausgehen, und das sich doch entscheidend von allen organischen und tierischen Bewusstseinsformen unterscheidet. Es stellt, wenn man sich den Aufbau der Wirklichkeit hierarchisch vorstellt, noch eine neue Stufe gegenüber der biologischen Stufe dar, und zur Aufklärung seiner Struktur und seiner Möglichkeit dürften auch prinzipielle Überlegungen etwas beitragen können. Nach Kant zeigt das Selbstbewusstsein "ein über alle Sinnenanschauung so weit erhabenes Vermögen an, daß es, als der Grund der Möglichkeit eines Verstandes, die gänzliche Absonderung von allem Vieh, dem wir das Vermögen, zu sich selbst Ich zu sagen, nicht Ursache haben beizulegen, zur Folge hat, und in eine Unendlichkeit von selbstgemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht."438 Die These ist also, dass es das Selbstbewusstsein ist, das diese Form des (menschlichen) Bewusstseins begründet und die Frage ist, wie die Genese dieses für sich genommen beinahe paradoxen Selbstbezugs möglich ist. Das klassische Bild des Selbstbewusstseins sieht so aus, dass das Ich sich auf sich selbst richtet und in dieser Beziehung auf sich selbst Subjekt und Objekt zugleich ist. Wie kann es aber wissen und sogar sicher sein, dass es dieses Objekt, auf das es sich richtet selbst ist? Das klassische reflexionslogische Paradoxon. In den Worten von Manfred Frank: „Selbstbewusstsein kann nicht als 'gegenständliches Bewusstsein' aufgefasst werden … Es muss sich vielmehr um ein 'ungegenständliches Bewusstsein' handeln, wie das zuerst Schleiermacher und Schelling genannt haben. 'Ungegenständlich' meint: mit sich selbst bekannt vor jeder vergegenständlichenden Selbstzuwendung. Und was vor jeder Selbstvergegenständlichung mit sich bekannt ist, ist präreflexiv mit sich bekannt, denn Reflexion ist nichts anderes als eine solche innere Selbstvergegenständlichung. … Was aber spricht genau gegen dieses Modell, dem wir doch intuitiv alle spontan zuneigen? Darauf gibt Novalis im Herbst 1795 eine erstaunliche klare Antwort: 'Was die Reflexion findet, scheint schon da [gewesen] zu seyn.'“439 Die klassischen philosophischen Theorien des Selbstbewusstseins, die sich an seiner paradoxalen Struktur abmühen, leiden meiner Meinung nach vor allem unter dem unklaren ontologischen Status des Bewusstseins, d.h. darunter, dass sie das Bewusstsein selbst ontologisch als ein wie auch immer geartetes autonomes 'Etwas', eine Substanz im weitesten Sinn, betrachten, woraus sich dann die angeführte reflexionslogische Aporie ergibt. Denn von einer Substanz ausgehend ist schwer verständlich zu machen, wie etwas umstandslos sich auf 'sich selbst' beziehen können soll, so dass es dieses Etwas außerdem zweifelsfrei als 'sich selbst' erkennt. Manfred Frank sucht den Ausweg aus diesem Dilemma, wie ich meine zu Recht, in einer ungegenständlichen, präreflexiven Bekanntheit des Bewusstseins mit sich selbst, doch diese Lösung richtet den Fokus natürlich umso schärfer auf die Frage nach dem Sein, dem ontologischen Status des Bewusstseins. Frank schließt sich in dieser Frage, und in scharfsinniger Auseinandersetzung mit vielen historischen und zeitgenössischen Positionen, Jean-Paul Sartre an. „Ihm zufolge ist Bewusstsein vollkommen 437 Novalis, zitiert nach Frank, M. (2015), S. 29 438 Kant, I. (1975a), S. 601 439 Frank, M. (2015), S. 28f. 131
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