Volltext: Heimatbuch Unterweissenbach

Niedergang und Verfall von Ruttenstein als Herrschaftssitz 
Die Herrschaftsverwaltung kommt nach Weissenbach 
nacht auf die Ruine Ruttenstein begebe, so sei ihm 
ein großes Glück beschieden! Es erscheine nämlich 
um diese Zeit alljährlich ein Buntspecht mit einer 
zauberkräftigen Springwurzel im Schnabel. Hat nun 
das Sonntagskind ein rotes Tuch, so lässt der Specht 
die Wurzel ‚auf dieses Tuch fallen. Mit dieser 
Springwurzel kann der Glückliche einen großen 
Schatz heben. Sie führe ihn mit zwingender Macht 
an den Fundort. Dort habe er solange zu graben, bis 
er auf eine eiserne Kiste stoße. Während des Gra- 
bens aber werden ihn fortwährend boshafte Alraun- 
chen necken und ein großer schrecklicher Hund 
belle unablässig und fletsche die Zähne. Das Sonn- 
tagskind darf sich aber nicht verleiten lassen, auch 
nur ein einziges Wort zu sprechen oder sich gar um- 
zudrehen. Sonst sei die Schatzkiste sogleich ver- 
schwunden. Besteht man aber die Probe, so springt 
die Kiste wie von selbst auf. Von oben bis unten ist 
sie mit funkelndem Gold gefüllt. 
Wenn Jakob im Dorf seine selbstgeflochtenen Körbe 
zum Verkauf anbot, besuchte er immer auch den 
Schneider in seinem Haus. Er erzählte den zwei 
gutmütigen kleinen Mädchen des Schneiders von 
dieser Geschichte. Sie redeten ihm zu, doch sein 
Glück als Schatzgräber zu versuchen. Alle drei 
schwärmten von den Herrlichkeiten, die ihm der 
Schatz verschaffen würde. Jakob bekam leuchtende 
Augen: Er brauchte dann nicht mehr zu den Bauern 
ın die Kost zu gehen, wo man ihn öfters wie einen 
Halbnarren behandelte. Er könnte sich dann selber 
ein Haus mit Wiesen und Äckern, Rindern und 
Schafen kaufen. In dieses Haus möchte er dann ein 
Eheweib holen, so schön wie die Gstöttner Tini. 
Eines Tages kehrte er wieder bei den Schneiderleu- 
ten ein. Er hatte ein sorgfältig verschnürtes Paket 
unter dem Arm. Jakob wickelte bedächtig und mit 
geheimnisvoller Miene sein Paket auf und breitete 
freudestrahlend ein großes rotes Tuch vor den 
Schneiderleuten aus. Er erzählte, dass ihm der Krä- 
mer für ein paar Körbe anstatt des Geldes das Tuch 
gegeben habe. In der Sonnwendnacht wolle er damit 
sein Glück versuchen. Die Mädchen bewunderten 
das schöne Tuch und freuten sich über das bevorste- 
hende Glück. 
Endlich war es soweit. Jakob macht sich auf den 
Weg zur Ruine Ruttenstein. Beschwerlich fällt ihm 
der Aufstieg zur halb zerfallenen Burg. Einen Spa- 
ten trägt er auf der Schulter. Das Tuch hat er unter 
den Arm geklemmt. Endlich steht er im Burghof. Er 
lehnt den Spaten gegen eine Mauer. Dann breitet er 
das rote Tuch aus. Unter dem Holunderstrauch will 
er ein wenig verschnaufen. „Wird wohl der Specht 
kommen?“ Diese Frage geht ihm unablässig durch 
den Kopf. Doch es heißt, bis Mitternacht zu warten. 
Johanniskäfer leuchten wie Gold und torkeln durch 
die Nacht. Eine Fledermaus flattert um den von 
Wind und Wetter zerrissenen Turm. | 
Allmählich überkommt Jakob eine große Müdigkeit. 
„Komm!“, sagt plötzlich ein kleines graues Männ- 
chen und führt ihn zu einer Felsspalte. Jakob tastet 
sich durch einen halbdunklen Gang vorwärts. Da 
lendet ihn ein strahlendes Lichtermeer. Er ist in 
sıner große Halle, in deren Mitte ein großes Feuer 
orennt. Zahlreiche Zwerge hämmern und schmieden 
lauteres Gold. Teils zu prächtigen Schmuckgegen- 
ständen, teils zu schimmernden Münzen. Jakob ist 
zanz geblendet und lauscht den Tönen eines seltsa- 
men Liedes: „Feuer brennt, Feuer glüht, Liebe 
wärmt, Liebe fühlt. Gold ist schön, Gold .ist rot. 
Willst du Gold, droht dir der Tod!“ Da sieht er, wie 
hn die Zwerge immer drohender anblicken. Sie 
‚angen zu murren an, dann bricht es von allen Seiten 
os: „Verfluchte Menschenkreatur! Deinetwegen 
müssen wir uns plagen! In Strömen fließt unser 
Schweiß, damit du mit dem Gold in Übermut leben 
<annst!‘ — „Da hast du dein Gold!“ Mit diesen 
Worten beginnen sie ihn mit Goldstücken zu bewer- 
fen. Von allen Seiten prasselt schweres Gold auf ihn 
ein. Rote Lichter tanzen vor seinen Augen. Verzwei- 
felt fällt er auf die Knie, hebt bittend die Hände und 
ruft: 
‚I will koa Gold, i will koan Schatz! Laßt‘s mi lebn, 
sunst will ı nix auf da Welt!“ 
Stöhnend erwacht Jakob. Langsam kommt er wieder 
zu sich. Er blickt auf seine Nickeltaschenuhr und 
stellt zu seinem Schrecken fest, dass es schon auf 
zwei Uhr nach Mitternacht geht. So lange hatte er 
zich verschlafen. Stumm nahm er den Spaten und 
das Tuch und stieg wieder den Berg hinunter, wäh- 
‚end große dicke Tränen über seine Wangen rollten. 
Von dieser Zeit an hatte der Korbflechter Jakob 
nichts mehr vom Schatzgraben hören wollen. Nur 
sin einziges Mal, als ihn die Schneiderdirndl gar so 
herzig baten, hat er ihnen zusammenhanglos einiges 
davon erzählt. „Woaßt‘“, so schloss er, „mir is in 
mein Leben halt nix vergunnt. An andern wär der 
Specht sicha kemma!““ 
Jiıe Mädchen redeten ihm zu, es nochmals mit dem 
Schatzgraben in Ruttenstein zu versuchen. Doch da 
<am man schön an bei ihm. 
„Kunnt mı der Teufl a nu holn! I trau mi nimma!“ 
Aus dem roten Tuch ließ er sich beim Schneider 
einen Rock machen, der ihn von jetzt an von den 
übrigen Dorfbewohnern als ein Original hervorhob.‘! 
Berta Urmann, „Zwischen Waldbergen und rauschenden Bä- 
hen“. Bearb. v. Dr. D. Eder
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.