Volltext: Liebe und Leben - ein Schicksal nach Briefen [Folge 12]

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Kr. (Kremsmünster), 12. Oktober 1871 
Liebste Marie! 
Draußen ist ein kalter, trüber Herbsttag, in mir aber ist heller Sonnen- 
schein über Deinen herzigen Brief u. über das Gedeihen unseres lieben 
Söhnleins. Ich studiere fleißig in Büchern über Erziehung, damit ich ihm 
eine recht gedeihliche fruchtbare Erziehung beibringen kann. Ich glaube 
gern, dass er lieb Mütterlein schon kennt u. liebt. O, das Lächeln eine 
Kindes ist wahrlich wie ein sangtes Aufleuchten des Himmels an Som- 
merabenden, wo man schon die Englein hinter dem Lichte zu sehen 
meint. Gelt, Du schreibst mir immer wieder so herzige Berichte über ihn, 
damit ich mich doch wenigstens an ihnen erfreuen kann, bis ich ihn sel- 
ber auf den Armen herumtrage u. in sein liebes Gesichtlein schauen 
kann. 
Nur die Sorge wegen der Wohnung drückt mich schwer, mache mir sel- 
ber die größten Vorwürfe, dass ich nicht energischer die Sache betrieben 
habe u. Dich jetzt so besorgt sehen muß. Im Traume schon habe ich 
Dich mit Thränen gebeten, Du mögest mir verzeihen, dass ich Dich so 
viel leiden lassen, aber es ist etwas in mir, was mich immer wieder auf- 
richtet u. unsere Zukunft heiter u. sorgenfrei darstellt. 
Es wird alles das seiner Zeit eine Folie u. ein Vergrößern u. verschöne- 
ren unseres Glückes sein. Spannkraft u. Schwung kommen mir wieder 
mehr in dieser Ruhe u. Einsamkeit. Auch der Unterricht geht so vorwärts, 
dass ich meine, die Schüler werden Achtung u. Liebe hegen. Spielet nur 
fleißig mit Albrechtchen, zeige ihm auf dem Klavier die Folge der ein- 
fachsten Skalen; jetzt schon.kann er sich den Unterschied von Grundton, 
Terz, Wuint u. Oktav heimlich eigen machen u. zeitlebens wird er ein 
musikalisches Ohr haben. Von Sachen zeige ihm nur schöne, runde o- 
der regelmäßige Dinge, nicht zu grell geschecktes, nichts schwarzes, 
aber glänzendes wohl. Wie glücklich wäre ich, mich immer mit Ihm be- 
schäftigen zu können. Was macht Burscherl? Geht er mit Markus spazie- 
ren? Hat Markus sich schon die Stadt besehen u. Gänge gemacht? Wo 
sind die Bücher alle untergebracht? 
Viel herzlich küsse ich mein herrliches angetrautetes Weibchen, meinen 
gelibten Sohn u. den lieben Freund Markus. Gottes Schutz u. Segen be- 
hüte Euch. 
Dein treuliebender Gatte 
Hans
	        
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