Volltext: Kinder-Singfest in Linz am 19. und 23. Oktober 1907

gungsborn. Unter all den ungefälschten Denkmälern deut— 
schen Volkslebens steht das Volkslied obenan. In seinen 
Ldiedern hat der Deutsche gelacht und geweint, geträumt und 
geklagt, gekämpft und gerungen, gezürnt und gebetet. Diese 
von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbten Liedlein, in der 
Form höchst einfach, im Ausdruck nicht immer gewählt, aber 
grundehrlich, kernhaft, treuherzig, naiv, wie aus blauen 
Kinderaugen hervorschauend, oft tiefpoetisch, sie sind der 
Atemzug der erregten, erschwingenden Volksseele und sind 
der poetische Niederschlag deutschen Empfindens, deutschen 
Geistes- und Gemütslebens und darum ein kostbarer und 
unverwüstlicher Schatz für unsere Nation. Und weil sich in 
ihnen das Deutschtum ausgeprägt hat, werden sie allezeit 
Vorbilder und Weckmittel deutscher Gesinnung und Ge— 
sittung bleiben. 
Auf den großen Sängerfesten in Wien, Stuttgart und 
Graz hatte der Schreiber dieser Zeilen reichlich Gelegenheit, 
zu beobachten, daß gerade die schlichtesten Volkslieder, von 
der vieltausendköpfigen Sängerschar einmütig gesungen, 
imstande waren, den Hörern und Sängern die Tränen der 
Begeisterung und Ergriffenheit in die Augen zu treiben, 
eine Wirkung, die der Kunstgesang nie und nimmer zu er— 
zielen vermochte. —WM 
Verwundern muß man sich nur, daß man diese wert— 
vollen Perlen echter Poesie so lange unbeachtet, ja fast ver— 
achtet abseits liegen lassen konnte. Erst wenn das Volksleben 
hohe Wellen schlägt, meist erst zu Zeiten nationaler Not 
erinnert man sich des Wertes der Volkslieder, wie ja auch 
in solchen Zeiten der Begriff „Volk“ dann immer seine 
eigentliche Bedeutung gewinnt. 
Volkslieder aber müssen gesungen werden, im anderen 
Falle sind sie Leselieder und als solche nicht der wahre Aus— 
druck, die treue Abspiegelung der Zustände, Sitten und 
Denkweise des Volkes. 
Deutschland ist seit langem das erste Land der Musik. 
Das deutsche Lied hat sich mit der Musik auf wunderbare 
Weise vermählt; erst die Melodie trägt es geflügelt von 
Mund zu Mund; nur im gesungenen Volksliede liegt des 
Volkes Seele, ihre geheimste Falte offen, nur als solches 
kann es, wie wir das bei der „Wacht am Rhein“ erlebt 
haben, der Anker der Nation werden. Bekannt ist ja der
	        
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