Volltext: Die militärische, wirtschaftliche und finanzielle Rüstung Deutschlands von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges (Erster Band)

Rückblick. 
Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen war die 
schöpferische Tat, durch die General v. Scharnhorst vor mehr als hundert 
Jahren die Grundlagen des neuen Volksheeres legte; erst durch die freie 
Entfaltung der lebendigen Volkskräfte konnte der Befreiungskampf sieg 
reich bestanden werden. Der Grundsatz, daß es nicht nur die Pflicht, son 
dern das vornehmste Recht eines jeden wehrfähigen Staatsbürgers sei, 
durch das persönliche Opfer der Wehrpflicht eine Mitverantwortung für die 
Sicherheit und den Bestand des Staates zu übernehmen, wurde zu einer 
Quelle sittlicher Kraft für das gesamte preußische Volk. 
In der Reichsverfassung vom 16. April 1871 war die allgemeine 
Wehrpflicht als Grundlage der neuen deutschen Wehrbestimmungen zwar 
festgelegt worden, es sollte indessen unter Übernahme der betreffenden Be 
stimmung der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom Jahre 1867 im 
Frieden vorläufig nur ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung zur 
Ausübung dieser vaterländischen Pflicht herangezogen werden. Aus dieser 
vorübergehenden Einschränkung des Grundsatzes der allgemeinen Wehr 
pflicht wurde in der Folge ein Dauerzustand; große Teile der wehrfähigen 
Bevölkerung blieben von der militärischen Ausbildung ausgeschlossen. Dies 
konnte im Laufe der Jahrzehnte bei der anhaltenden Zunahme der Vevölke- 
rungszahl Deutschlands verhängnisvolle Auswirkungen zeitigen. 
Solange Fürst Bismarck die Geschicke des Reiches leitete, konnte auf 
eine volle Ausnutzung der Wehrkraft des Volkes um so eher verzichtet 
werden, als in dem ersten Jahrzehnt nach Aufrichtung des Reiches die 
Gefahr eines das Dasein Deutschlands gefährdenden Angriffs der Nach 
kam nur gering war. Zudem war es der Vismarckschen Staatskunst ge 
lungen, die Rüstungspolitik in die Gesamtpolitik des Reiches, dessen Stütze 
und Rückhalt das Heer bildete, stets organisch einzugliedern und ihr inner 
halb dieses Rahmens die Bahnen ihrer Entwicklung zu weisen. 
Die Gefahren, die dem Bestände des jungen Reiches mit seinen nach 
Ost und West offenen Grenzen inmitten Europas drohten, traten aber all 
mählich um so deutlicher hervor, je mehr seine Nachbarn in Nachahmung 
der allgemeinen Wehrpflicht ihre Volkskraft ausnutzten und damit ihre 
zahlenmäßige Überlegenheit immer mehr zunahm. Angesichts dieser ernsten 
Lage war es der Preußische Kriegsminister, General v. Verdy, der im
	        
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