Volltext: Kriegserlebnisse ostpreußischer Pfarrer 2. Band (2. Band / 1915)

Greueltaten erzählten, wuchs die Angst der Leute in dem 
Maße, daß viele schon jetzt zur eigenen Flucht veran 
laßt wurden. Vor allem haben wohl die Schilderungen 
der mit ihren Familien in besonderen Bergungszügen hier 
her gebrachten unteren Bahnbeamten und Bahnarbeiter 
aus den Kreisen Lyck und Iohannisburg, die z. T. acht 
bis zehn Tage hier blieben, manchen veranlaßte, lieber etwas 
früher zu fliehen, als später womöglich nicht mehr fort 
kommen zu können. Aber auch gebildete „Flüchtlinge" 
rieten zum Fortgehen. Eine durchaus hoffnungslose Stim 
mung sprach aus den meisten. Ein Amtsbruder suchte 
mich besonders zu dem Zwecke auf, „um mir reinen Mein 
einzuschenken". Es sei alles verloren, „die Ratten ver 
ließen das sinkende Schiff" usw. Ein Gutsbesitzer aus 
Masuren, dessen Bruder im Kirchspiel Liebstadt ansässig 
ist, wußte mir zu erzählen, daß die Russen es besonders 
auf die Pfarrer und Lehrer abgesehen hätten, weil sie 
besonders den Patriotismus der einfachen Leute pfleg 
ten und förderten. Nach dem Berichte dieses Herrn und 
anderer Flüchtlinge wären bis dahin mindestens fünf 
zehn Pfarrer ermordet worden, deren Namen auch alle 
genannt wurden. Am scheußlichsten klang die Erzählung 
von dem Tode zweier älterer Amtsbrüder aus einer kleinen 
Grenzstadt, die in Fässer gesteckt, mit Teer bestrichen und 
dann verbrannt sein sollten. Auch diese beiden erfreuen 
sich, Gottlob, noch heute, wie die anderen alle, ihres 
Daseins. Man kann sich aber die Wirkung all solcher 
Erzählungen auf einfache und ohnehin schon verängstigte 
Gemüter vorstellen. Kein Wunder, daß deshalb am 
30. August die Aufregung aufs höchste stieg. Nun gab's 
bei den meisten kein Halten mehr. Die persönliche Be 
einflussung von einem zum anderen hörte zum größten 
Teile auf, und es trat der Grundsatz in Geltung: „Jeder 
ist sich selbst der Nächste." Alles, was Beine hatte, eilte 
auf den Bahnhof und drängte sich in den Bergungszügen 
zusammen, die zur Abfahrt bereit standen, aber nur z. T. 
abgelassen wurden. Auch feinere Leute mußten deshalb 
die Nacht im Viehwagen zubringen und warteten mit 
Zittern und Zagen der kommenden Dinge. Unvergeßlich 
bleibt mir folgendes Erlebnis an jenem Schreckens-Nach- 
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