Volltext: Katholische Dichtung

Friedrich Pustet, Graphischer Großbetrieb, Regensburg 
Da fchüttelten die reichen und mächtigen Freunde der Maria verwundert das 
Haupt, zuckten die Achfel und ritten zurück in die Stadt und kümmerten fich 
fürderhin nicht mehr um Maria. Zum Volke aber fprach der Herr: „Wer von 
euch fich frei weiß von aller Schuld, der werfe den erften Stein auf fie!“ Und 
fein Blick drang in die Augen all der Männer und Frauen, die da vor ihm 
{fanden und fchon Steine aufgerafft hatten, die Sündhafte zu töten, und einem ! 
nach dem andern erlahmte Arm und Hand, und die fchon aufgerafften Steine 
fielen auf die Erde zurück, und eines um das andere fchlich fich hinweg wie J 
ein Dieb, der fich ein Recht angemaßt hatte, das ihm nicht gehörte. Da blieb 
der Herr allein zurück und bei ihm Maria, die auch Magdalena hieß, und 
dann ging auch der Herr von ihr hinweg, und fie blieb ganz allein. Da weinte 
fie bitterliche Tränen, denn fie wußte nicht, ob fie fich von der Erde erheben 
und dem Herrn folgen dürfe. Und fie empfand eine bittere Reue über ihr 
Leben und ihre Sünden und eine folche Sehnfucht, fich erheben und dem 
Herrn nachfolgen zu dürfen, daß fie fo die ganze Nacht in Tränen verweilte 
und Gott anflehte, daß er ihr ein Zeichen feiner Gnade fende. Als es gegen 
Morgen ging, fpürte fie einen wunderfamen Duft, der von der Erde aufftieg 
und fie umfloß. Und es war ihr, als fei der Herr Jefus Chriftus felbft wieder 
zugegen. Sie griff ins Dunkle, feine Füße zu umfaffen, doch fie griff ins Leere. 
Und immer bitterer und heftiger wurden ihre Tränen; doch als die Sonne 
aufftieg, fah fie, daß ringsum, wo immer ihre Tränen auf den Boden gefallen 
waren, kleine, blaue Blümchen blühten, von denen jener feltfame, geheimnis 
volle Duft ausging, der fie glauben ließ, Gott felbft fei nahe. 
Da verftand fie das Zeichen, das ihr von Gott war gefchickt worden, und ein 
unendlicher Glaube ergriff fie, daß er, der die Tränen ihrer Reue in folch wun- 
derfam duftende Blüten wandle, nun auch fie, die fchandhafte Sünderin, 
wandeln könne in einen Engel des Himmels. 
Und fie ftand auf und folgte dem Herrn Jefus Chriftus nach. 
Entnommen aus: Leo Weismantel „Die Blumenlegende“. Mit jechs farbigen Bildern von Alfred 
Hagel. 4.—6. Tausend. 126 Seiten. Ganzleinen M. 8.— 
Man hat feine helle Freude an diefem Werk, das reich ift an Phan» j 
tafie und an lebendigen Bildern, und im Vortrag den Ton der Legehde 
fo glücklich trifft, ohne altmodifch zu ftilifieren. Ein rechtes Buch 
für die Jugend. Und ebenfo für Erwachfene. Am beften für alle 
beide zufammen. Das will fagen: ein Buch, das man in ftillen Stunden 
am Familientifch zufammen lefen follte. Hamburgifcher Correfpondent 
Weismantels „Blumenlegende“ ift mir das Liebfte von allem, was der 
Dichter gefchrieben hat. Der Born reiner Naturfreude und naturmythb 
fchen Grübelns find darin aus vielen Jahrhunderten her zufammenge* 
ftrömt. Und auch diefe fcheinbar kindlichsträumerifchen Legenden find 
in jeder Zeile voll fittlichen Gehalts und religiöfen Empfindens und 
darum gleichfalls ein wertvolles AbendsLefebuch für das chriftlicheHaus, 
woraus jung und alt ein neues, tiefes Naturverftehen lernen können. 
Dr. Alfons Heilmann
	        
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