Volltext: Katholische Dichtung

VERLAG JOSEF KÖSEL & FRIEDRICH PUSTET MÜNCHEN 
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DOLORES VIESfiR: 
HEIMATLOS 
Die zwei Glöcklein der Spitalkirche bimmeln kläglich ineinander. „Arme Leut 
— arme Leut —“ Im Trubel des Wiefenmarktes gehen die Töne unter. 
Erftaunt und gleichgültig wenden die Leute die Köpfe, als der traurige, kleine 
Zug die Marktwiefe durchqueren muß. „A Leich! Wer eppa? A glei a Armer“ 
— Das fleht man ja auf den erften Blick. Die Miniftranten haben es eilig, 
Lichtträger ift ein buckliges Spitalmandl, und auf dem weißen Bretterlarge 
liegt kein Schmuck, außer einem Strauß von Bauernblumen. 
Hinter dem Sarge geht der Hansl, das fonnverbrannte, blutleere Gefleht tief 
gefenkt, den Geigenfack auf der Schulter. Es ift alles tot und leer in ihm. — 
Es hat ihm keinen Schmerz bereitet, als ihm die Wirtin das Zurückkommen 
verboten hat, und hat ihn nicht getröftet, daß der Martin und eine überaus 
ftattliche ältere Bürgersfrau aus der Stadt gekommen waren, um feinem Vater 
die letzte Ehre zu geben. Er kann nicht einmal weinen. Als hätte ihm jemand 
das Herz aus dem Leibe geriffen, fo ift ihm zumute. — „Gar ka Gmüet hat 
der Bue cc , lufpert ein Spittelweiblein in der Eile feiner Nachbarin zu, während 
die paar alten Mandeln vorbetend ein „Gegrüßt feift du Maria“ dahermum 
meln. „Halige Maria Muettergottes — — na gar kans, ganz fchröckli! Is halt 
a Zigeiner!“ Ein ftrafender Blick aus den Augen der vornehmen Bürgers- 
Frau macht das Gefchwätze verftummen. 
Das Kirchhoftürlein fleht weit offen. Mühfelig ftolpern die vier Alten mit 
dem Sarge über die groben Steinftufen hinauf. Hinten an der Mauer, gegen 
die Franziskanerkirche hin, unter den fruchtfchweren Holunderftauden gähnt 
ein frifches Grab. Als der Hansl es erblickt, fängt er zu zittern an. Der alte 
Pater macht es kurz. Er hat noch einen wichtigen Gang vormittags — und 
was foll er das blaffe Kind da erft noch mit einem Nachruf plagen? 
Mit einem leifen Wehlaut fleht der Hansl den Sarg in der Erde verflnken, 
wirft ein Schäuflein Erde darüber und vergeht beinahe in entfetzlicher Be 
klemmung, daß fein lieber, lieber Vater nun in dem finfteren Sarge liegt und 
nie, nie wieder feinen Buben anfehauen wird. Dann fchießen die Miniftranten 
mit Kreuz und Weihwaffer der Kirche zu, der alte Pater gibt feinen fchwar- 
zen Vefpermantel dem Frater Heinrich zum Heim tragen, und die Spital- 
wufelen zerftreuen fleh zwifchen den Gräbern. Die Bürgersfrau will den 
Buben anfprechen und legt ihm die Hand mild auf die Achfel. Er aber fährt 
zurück und blickt die Frau mit einem leidenfchaftlich abwehrenden Ausdruck 
an. Da fchreitet fle langfam dem Türlein zu. 
Hansl fetzte fleh auf den grasüberwucherten, namenlofen Hügel nebenan. In 
der Luft liegt füß und fchwer ein Duft von welkenden Blumen. — Auf dem 
fonnbeftrahlten, fchmalen Weglein humpelt der Totengräber mit feiner
	        
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