Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr 1917 (1917)

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«z bei seinem Nachdenken immer klarer, wie 
unrecht er dem jungen Manne tat. wenn er 
ihn verdammte, und es schien ihm jetzt un- 
möglich, daß dieser biedere offene Bursche, den 
er einst für würdig gehalten hatte, der Gatte 
seiner Tochter zu werden, ein gemeiner Ver- 
Lecher geworden sein sollte. 
Der Kampf im Innern des Försters war 
beendet. Bork wurde ruhiger. 
Die Sonne war 
md die Dämmerung 
begann ihre Schattend 
auf dm schweigenden 
Wald herniederzusen- 
tot. Die Luft war 
klar, gereinigt durch 
das Gewitter der ver- 
gangenen Nacht, und 
leine Wolke verhüllt« 
die am Himmel auf- 
blitzenden Sterne. Der 
Förster schritt rüstig 
heimwärts. 
Da, was war 
das? Zitterte nicht 
soeben ein leise kla- 
gender Ton durch die 
Luft? Bork blieb 
stehen und lauschte. Da 
war es richtig wieder. 
Der Laut hob kräf- 
tig an, bis er in einem 
unbestimmten Hauch 
Imgsam verhallte. 
„Ein Reh!" schoß es 
dem Weidmann so- 
gleich durch den Sinn. 
Vergessen war für den 
Augenblick das bit- 
tere Herzeleid, ver- 
gessen die inneren 
Vorwürfe, jetzt war 
er nur Förster, Jä- 
ger. Die sich von 
Zeit zu Zeit wieder- 
holenden Klagelaute 
leiteten ihn. Er brach 
schon untergegangen, 
„Halt, oder ich schieße!" tönte Borks 
markige Stimme kräftig durch den schweigen- 
den Wald. 
seitwärts ins Gebüsch, um der Sache auf den 
Trund zu kommen. Immer weiter drang er 
vorwärts, sich mit dem blanken Hirschfänger 
durch Gezweig und zähes Gerank eine Gasse 
bahnend. Näher ertönte das klägliche Wim- 
inern. 
Da trat der Förster hinaus aus dem 
Knieholz auf eine kleine Blöße, die 
mit Heidekraut dicht bestanden war. In ihrer 
Mitte erblickte er eine dunkle Masse, die sich 
zu bewegen schien. Ein. zwei Schritte, und 
Bork stand vor einem sich hoch aufbäumenden 
Reh. Das arme Tier wurde durch eine 
Schlinge, in der es sich gefangen, festgehalten. 
Ein Gefühl des Unbehagens, ja des Grauens 
beschlich den alten Förster im dunklen Wald. 
Hier hatten Wilderer vor ganz kurzer Zeit 
ihr sündhaftes Handwerk betrieben. 
Stöhnend hatte der Bock sich wieder nie- 
beigelegt, Bork hatte dreißig Schritte -pon 
ihm entfernt jich in ein bergendes Versteck 
zurückgezogen. Lang ausgestreckt hatte er sich 
in die Heide hinein- 
gewühlt, die gespann- 
te Büchse schußbereit 
neben sich. Durch eine 
Lücke, die er durch Ab- 
schneiden einiger Zwei- 
ge sich geschaffen, ge- 
wann er einen vollen 
Ausblick «uf die vom 
Monde matt erleuch- 
tete Blöße mit dem 
gefangenen Tier. Kein 
Lüftchen regte sich und 
tiefe Stille hüllte den 
Wald und die Heide 
ein. Nur hin und 
wieder schallte das 
dumpfe Geschrei eines 
Kauzes aus dem 
Langholze herüber. 
Jedesmal wenn vom 
Tritte eines dahinhop- 
pelnden Hasen ein 
dürrer Ast leise knak- 
kend zerbrach, oder 
ein dürres Blatt ra- 
schelte, dann lauschte 
der Förster gespannt 
in die Ferne, dann 
umklammerte die 
Hand fester das treue 
Gewehr. Aber im- 
mer verstummte das 
Getäusch wieder und 
der, den der Förster 
erwartete, kam nicht. 
Vielleicht suchte er 
heute Nacht überhaupt nicht mehr diesen Ort 
auf, auch das war möglich. Aber lieber wollte 
Bork die ganze Nacht im Busche ausharren, 
ehe er sich den Dieb entgehen ließ. So ver- 
ging eine, es vergingen zwei Stunden. Hin- 
ter der Stinte des einsamen Mannes im nächt- 
lichen Walde jagten sich die mannigfaltigsten 
Gedanken. Er dachte an seine Lieben daheim, 
an die Tochter, die um den Geliebten weinte, 
an die Mutter, die der Traurigen Trost zu 
spenden versuchte. Dann wieder überlegte er 
genau seine gegenwärtige Lage, wie «r den
	        
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