Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr.... (1916)

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fall ihn gerade auch hieher führen mutzte, in 
die Gegend von Metz, die er so gut kannte, datz 
jeder Name, jeder Weg hier Erinnerungen in 
ihm erweckte, die er längst vergessen glaubte! 
Durch diese blühenden, jetzt so traurig verwü¬ 
steten Felder war er auf seinem Rade gesaust, 
jung, selig und toll verliebt in die graziöse, 
schwarzäugige Französin, die den deutschen 
Ingenieur ganz und gar in Banden geschlagen, 
datz er nicht eher ruhte, als bis sie seine Wer¬ 
bung annahm, seine Frau wurde. Ein fröh¬ 
licher Tourenkamerad war sie gewesen, zum 
Lebenskameraden des schwerfälligen Deutschen 
taugte sie aber gar nicht. Sie wollte auch um 
reinen Preis dem Manne folgen, als sein Beruf 
ihn wieder in die Heimat rief, und so trennte 
man sich nach drei kurzen, traurigen Ehejahren 
als völlig Fremde, ja als Feinde, die nichts 
mehr von einander gehört hatten. Fast zwanzig 
Jahre waren seit dem vergangen: Hauptmann 
Dehlers hatte die Episode seiner Ehe fast ver¬ 
gessen — und nun erwachte sie wieder, Gespen¬ 
ster umschwirrten ihn, alles wurde so unheimlich 
lebendig, was einst so weh getan. Wie seltsam 
doch das Leben spielte, datz er nun wirklich 
als Feind die alten Stätten wiedersah! Es 
ritz an ihm, die Vergangenheit barg so viele 
schwere Seelenkämpfe, die jetzt wieder so leben¬ 
dig wurden. 
Oehlers fuhr ärgerlich in die Höhe. Wur¬ 
de denn da unten nicht endlich Ruhe! Das 
hysterische Schreien und Weinen einer Frauen¬ 
stimme klang ab und zu immer wieder durch 
die stille Nacht und weckte den Hauptmann trotz 
seiner Müdigkeit. Er erhob sich, öffnete die 
nach dem Korridor gehende Tür und rief hin¬ 
unter: „Richter, was ist denn da unten los, 
Zum Donnerwetter?" 
Aeber die Treppe herauf polterten schwere 
Tritte und das breite Gesicht des Unteroffi¬ 
ziers Richter erschien: „Zu Befehl, Herr Haupt¬ 
mann, das Weibsbild von der Bagage, die 
wir gefangen haben, es soll die Frau des 
Maire sein, die macht so einen Radau!" 
„Was wrll sie denn?" 
„Freilassen sollen wir sie und das Früchtl 
von Sohn und die anderen sagen, datz der ge¬ 
rade auf uns geschossen haben soll! Sie aber 
schreit und heult, das sei gelogen, sie mützte 
freigelassen werden!" 
„Wenn sie nicht ruhig zu machen ist, füh¬ 
ren Sie sie herauf, Richter; bei dem Skandal 
rann man ja ooch nicht schlafen!" 
„Zu Befehl. Herr Hauptmann!" Der 
Unteroffizier verschwand, gleich darauf aber 
stopfte es an der Zimmertür, und rechts und 
iinks von zwei Soldaten geführt, betraten 
zwei der Gefangenen Oehlers Zimmer. Ein 
Mann und eine Frau. Die Frau war etw« 
vierzig Jahre, klein, ein ehemals hübsches, 
jetzt verstörtes, vor Angst verzerrtes Gesicht. 
Sie war gut gekleidet und machte den Eindruü 
einer Angehörigen der besseren Stände. Der 
Bursche neben ihr mochte vielleicht achtzehn 
Jahre zählen, sah ihr auffallend ähnlich, nur 
besatz er nicht ihren dunklen Teint und ihr 
schwarzes Haar, sondern war kastanienbraun 
mtt seltsam hellen Augen und fast rosigen, 
Gesicht. 
Die Frau warf sich vor Oehlers auf die 
Knie, ein erregter Wortschwall strömte über 
ihn hin, in dem das mit rasender Angst her- 
vorgestotzene, „Ne tuez=pas mon enfant, il n’a 
pas tirö,“ immer wiederkehrte. 
Oehlers sah unangenehm berührt auf die 
sich zu seinen Fützen windende Frau und schra! 
zusammen. Auch ihr Blick weitet sich, ihn 
Augen wurden starr, ihre Lippen formten einen 
Namen, der sich, wie ungläubig, nicht laut 
Wer dieselben wagte. 
„Abtreten!" Oehlers Stimme klang rauh. 
Die Soldaten verliehen den Raum. 
Auf den Knien rutschte die Frau zu den, 
Manne hin und pretzte ihr Gesicht an sein- 
herabhängende Rechte: „Francois >— e’est 
toi!" sagte sie bebend. 
„Louison — wie entsetzlich!" 
„Francois — ayex pitie!" 
„Sprich deutsch!" herrschte er sie an. „M 
kommst Du hierher? Schämst Du Dich nicht 
unter diesem Mordgesindel — und der Jung, 
— wer ist er? Witzt Ihr nicht, datz auf Eure« 
„Heldentaten" der Tod steht — also!" 
„Er hat nir geschossen — er nicht, Du darfst! 
ihn nir erschietzen, Francois!" 
„Sein Leben ist verwirft, da kann A 
nichts tun!" 
„Du kannst nicht töten — Deine eigen 
Sohn, Francois!" 
„Louison!" Wild packte er sie am Am 
und ritz sie hoch. „Spiel mir keine Komödi, 
vor. Du — ich habe keinen Sohn! Keinen 
der dazu imstande wäre — verstehst Du!“: 
Scheu glitt sein Blick hinüber zu dem mit tief-: 
gesenktem Kopfe dastehenden Burschen, de, 
seine Augen und sein Haar hatte. 
„Francois, er ist Deine Sohn — 
schwöre!" 
„Daran hättest Du früher denken müsse, 
und nicht dulden, datz einer, dessen Vater ein 
Deutscher, auf Deutsche feige hinterrüö 
schietzt!" knirschte Oehlers grimmig. 
„Latz ihn nicht meine Schuld zahlend 
sagte sie leise, flehend. „Kann er dafür, dm 
ich Euch alle hasse, hasse, weil Du mir nte«
	        
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