Volltext: Kriegs-Kalender für das Jahr 1915 (1915)

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armen Gegend schon als besonderer Vorzug. 
..Mutter, es hilft nicht mehr, ich muh 
an Bord! Um neun gehen mir 'raus, und 
ick hab' noch allerlei zu tun." unterbrach der 
Sohn das herrschende Schweigen. 
Die alte Frau nickte versonnen und nahm 
dann die Rechte ihres Nettesten in ihre run¬ 
zeligen Hände. Ihre Stimme zitterte, als 
sie bat: ..Sei recht vorsichtig, mein Junge. 
— versprich mir das! Du weiht, dein Vater 
blieb aus See — und nun, vorige Reise dein 
Bruder, mein Henry." Robert Davies muhte, 
wie sehr die Mutter an ihrem Jüngsten hing 
und wie die Ungewihheit über sein Schicksal 
sie quälte. Sanft streichelte er die welke 
Hand der Greisin, aber seine Züge blieben 
finster. „Du muht die Hoffnung nicht sin¬ 
ken lassen, Mutier! Zwei Monate ist die 
..Sabine" erst überfällig. — Sie kann noch 
irgendwo im Eise stecken." 
Der Sohn fühlte selbst, wie wenig über¬ 
zeugend sein Trost geklungen hatte, und die 
Mutier schüttelte denn auch ihr graues Haupt. 
„Nein, Robert meine Hoffnung ist dabin. 
Alle Schiffe, dis in jener Sturmnacht mit der 
„Sabine" zusammenlagen, sind längst zurück,- 
nur sie kommt nicht wieder — und mein 
Sohn." Die alte Frau erhob sich schwer¬ 
fällig und fuhr in leichterem Tone fort: 
„Ich will dir noch einen kräftigen Grog ma¬ 
chen. es ist so nahkalt drauhen." 
Als die Mutter das Zimmer verlassen 
hatte, wandte sich der Steuermann an das 
junge Mädchen: „Bessie, in einer Viertel¬ 
stunde gehe ich an Bord. — Hast du mir 
nichts mehr zu sagen?" 
Das junge Mädchen hob kaum den Kopf, 
als sie erwiderte: „Robert, schon einmal hast 
du mich gefragt, und ich habe dir auch offen 
geantwortet. Du weiht doch, dah ich mit 
Henry versprochen bin, — was quälst du mich 
noch immer?" 
..Und wenn er nun nicht wiederkommt?" 
Bessie Webster wandte dem Frager voll 
das Gesicht zu und blickte ihm fest in die 
Augen. „Er ist dein Bruder. Robert! — 
Auch wenn er. was Gott verhüte, nicht wieder¬ 
kehrt, habe ich dir nichts mehr zu sagen. Lah 
uns in Frieden scheiden. Leb wohl und gute 
Reise. Sie hielt Robert die Hand hin, aber 
der 'Steuermann tat, als sähe er sie nicht. 
„Adieu!" entgegnete er schroff, dann wandte 
er sich kurz um und verlieh mit harten Schrit¬ 
ten das Zimmer. 
Das junge Mädchen starrte auf das Mu¬ 
ster des Tischtuchs. Sie hielt die Hände 
im Schah gefaltet und um ihren Mund lag 
ein weher Zug. Was konnte sie auch dafür, 
dah ihre Neigung dem Jüngeren galt und 
dah sich die Brüder deshalb entfremdeten. 
Sie hatte Robert Davies nie Grund gegebeErle 
auf ihre Liebe zu hoffen. sie ! 
Drauhen war es hell geworden. Ham 
Davies kam ins Zimmer, um die Lampe zist, 
löschen. „Eben ist Robert fortgegangen, havori 
du ihn nicht gehört?" forschte sie mit ihyso i 
sanften Stimme. Das junge Mädchen schüNek 
kelle langsam den Kopf, aber ihre Brust hoPrc 
ein befreiender Seufzer. Fer 
* ber< 
Ein kühler Wind zerrih die letzten Nebe! 
schleier und fegte die Fetzen in den Ozeapon 
hinaus. Auf der Brücke der „Vesper" stauen 
Robert Davies neben dem Kapitän CurzoiMac 
Langsam glitten dunkelbewaldete Hügel Mr 
ihnen vorüber und mit jeder Umdrehung dtten. 
Schraube entfernte sich der Fanadampfer wewn 
ter von seinem Heimaishafen. Der Tag veDUi 
rann und die Dämmerung sank: da taucht« .T 
wie eine feine Nebelbank die Küstenlinien vchicki 
New-Bedford am Horizonts unter und btPlö: 
aufsteigende silberne Mond fand die „Despeichlc 
schon auf dem pfadlosen Ozean. .K 
Tag auf Tag vergeht in: steten EinerWM 
Immer weiter nach Norden nimmt der Dam?E 
fer seinen Kurs. Gegen Abend des elftMe« 
Tages wird es etwas neblig. Robert DaviW 
hatte die Wache auf der Brücke: seine EM 
danken weilten bei dem kleinen Häuschen D» 
New-Bedford. aber seine Augen bohren fit ^ 
förmlich in die Dunkelheit. Unruhig horAan 
er nach Deck hin. Bor einigen Minuten hatM 
er einen Matrosen beauftragt, die Temperatur 
des Meeres zu messen. ob< 
Endlich kommt der Mann zurück. „Steusger 
mann. das Thermometer ist um drei Gradai 
gefallen!" stöht er hastig hervor. L" 
„Soviel?" forscht Davies erschrockeipt 
Seine Hand greift nach dem Messinghebel en 
der Maschinentelegraph rasselt — langsam " 
drehen sich die gewaltigen Schwungräder iser 
Leibe der „Vesper", noch ein paar Schraube« - 
schlage, dann ist das Schiff aus der FabDe 
gekommen. „Wenn nur der scheußliche Nebdu 
nicht wäre!" denkt Davies grollend, und da 
atmet erleichtert auf. als jetzt auch KapitM 
Curzon dis Brücke betritt. v 
„Eisberg! — zwei Strich über BackboM 
voraus!" ruft der Ausgucksmann. U« 
..Eisberg über Steuerbordbug voraus!^" 
schallt fast gleichzeitig die Stimme eines ai?S 
deren Matrosen. m 
„Stopp! — Volldampf rückwärts!" «j 
Der alte Kasten zittert in allen Verbürg, 
den. aber die Maschine springt glücklicherm E 
sofort an, und nun geht es rascher und rasch"* 
rückwärts. Viel hak man nicht gesehen ve 
den Eisbergen. Nur merklich kühler wurde «ai 
und in geringer Entfernung iauchte ein hoheV 
gespenstiger Schatten vor dem Schiffe atp
	        
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