Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

Alexander Elfenbein: Zur Entwicklung des Bolschewismus 
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Wollen wir nun wissen, ob wir den Bolschewismus als eine Epoche oder eine 
Episode zu werten haben, so wird man zuerst seine Struktur, seine innere Festig¬ 
keit und Geschlossenheit zu prüfen haben. Der 13. Kongreß der kommunistischen 
Partei der U. d. 8.8. R. hatte bereits die bemerkenswerte Tatsache offenbart, daß diese 
Geschlossenheit, wie sie bei der Begründung der Partei durch Lenin vorlag, ins Wan¬ 
ken geraten war, und der Ende Dezember 1925 in Moskau abgehaltene 14. Kongreß 
hat zu einer offenen Spaltung innerhalb der Partei geführt. Das Auseinanderfallen 
in zwei Gruppen kommunistischer Politik läßt sich am besten mit dem Erscheinen 
der revisionistischen Richtung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vergleichen. 
In der U.d.S. S. R. repräsentiert Sinowjew (Petersburg) den Leninismus in seiner 
starren orthodoxen Formulierung, während Stalin (Moskau) die sog. Neue Wirt¬ 
schaftspolitik („Nep") vertritt, die zu Konzessionen an das kapitalistische Wirt¬ 
schaftssystem geneigt ist. Auf dem 14. Kongreß ist bei der Abstimmung über die 
künftig einzuschlagende Politik Stalin mit 559 Stimmen gegen 65 Stimmen der 
orthodox-marxistischen Opposition, die von Sinowjew geführt wird, als Sieger her¬ 
vorgegangen. Worin besteht nun der grundlegende Unterschied zwischen beiden 
Richtungen? Lenin hatte geglaubt, den Kommunismus auf das städtische Arbeiter¬ 
proletariat stützen und mit dessen Hilfe durchführen zu können. In Westeuropa 
ist diese proletarische Revolution ohne Echo geblieben und in Rußland selbst ist 
die Bedeutung des Industrieproletariats durch den zunehmenden Einfluß der bäuer¬ 
lichen Bevölkerung immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Rußland ist 
ein Agrarstaat, und rund 90%seiner Bevölkerung sind Bauern, die ihren neuen Besitz¬ 
stand der Revolution verdanken und ihn durch Einflußnahme auf die Regierung zu 
sichern suchen. Diesen Einfluß haben die Bauern zunächst in den örtlichen Sowjets 
gewonnen, wo sich bald eine bäuerliche Oberschicht bildete, deren wirtschaftliches 
Übergewicht auch den mittleren bäuerlichen Besitz in ihren Interessenkreis zog. Auf 
dem 14. Kongreß hat der der Sinowjewgruppe angehörige Volkskommissar für Finan¬ 
zen, Sokolnikow, die wachsende Bedeutung der Bauerngruppe als bedrohliche 
Gefahr für den echten Bolschewismus scharf beleuchtet. Vom Standpunkt des ortho¬ 
doxen Leninismus mit Recht. Denn das Eindringen bäuerlicher Wirtschaftsinteressen 
in den auf das besitzlose Industrieproletariat aufgebauten Bolschewismus bedeutet 
eine Aushöhlung seines ursprünglichen Programms. Das ist ein Vorgang, dessen wei¬ 
tere Auswirkung man mit größter Aufmerksamkeit verfolgen muß. Denn die neue 
(revisionistische) Wirtschaftspolitik Stalins ist nicht in der Lage, sich einseitig auf die 
Industriearbeiterschaft zu stützen, sie muß vielmehr alle verfügbaren Kräfte für den 
wirtschaftlichen Wiederaufbau heranziehen und natürlich auch die stark überwie¬ 
gende bäuerliche Gruppe nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Bedeutung berück¬ 
sichtigen. 
Aber auch noch in anderer Hinsicht bedeutet der Sieg der Revisionisten über die 
orthodoxe Richtung ein Abrücken vom starren Leninismus. Das geht deutlich aus 
der Behandlung der Industriefrage hervor. Denn die „Nep" hat sich die Aufgabe 
gestellt, eine staatlich geleitete Großindustrie zu schaffen, die allmählich in die Lage 
kommen soll, in möglichst großem Umfang jene Waren im Lande zu erzeugen, die 
Rußland bisher aus dem Ausland bezog1). Die Industrialisierung hat in erster Linie 
die Heranziehung einer Schwerindustrie im Auge, die Rußlands reiche Metallschätze 
erschließen und verwerten soll. Auch das Transportwesen erfordert nach Stalins 
Ansicht eine gründliche Reform. Die Nachfrage nach rollendem Material kann nicht 
annähernd befriedigt werden; sie ist so groß, daß im laufenden Wirtschaftsjahr die 
vorhandenen Lokomotiven und Waggons nicht bloß zu 100%, sondern zu 120 bis 
130% ausgenutzt werden müssen. Hier wird der heimischen Industrie eine große 
Aufgabe gestellt. Nicht minder auch auf dem Gebiet der Versorgung mit Heizmate¬ 
rial, wobei gleichzeitig die Technik gewaltig vervollkommnet werden soll, um einer 
Heizmaterialkrise vorzubeugen. Im April d. J. hat der Oberste Wirtschaftsrat in 
*) Vgl. den Aufsatz von Richard Ullrich in diesem Heft.
	        
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