Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

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Entwicklung des Bolschewismus 
Diese Besonderheit des russischen Gesellschaftsbildes erklärt aber nicht nur die 
Erfolge des Bolschewismus im früheren Zarenreich, sondern sie ist auch deshalb 
wichtig, weil sie die Richtung bestimmt, in der der Bolschewismus seine Propaganda 
auf andere Völker auszudehnen sucht. Das große politische Ziel Lenins, den west¬ 
lichen Industriestätten den Bolschewismus einzuimpfen und dadurch die Weltrevo¬ 
lution in Gang zu bringen, ist bekanntlich nicht erreicht worden. Der Westen 
hatte eine zu starke bürgerliche Staatsgesinnung, als daß die bolschewistische Pro¬ 
paganda hätte Erfolg haben können. Ganz anders liegen die Dinge im Osten. Bei 
den Völkern Zentralasiens, in China und in Indien ist eine der russischen ähnliche 
Gesellschaftsentwicklung vorhanden. Auch hier fehlt das große Zwischenglied Bür¬ 
gertum. Unvermittelt stehen sich eine kleine herrschende Klasse und die in materiel¬ 
ler und geistiger Abhängigkeit gehaltene Masse des Volkes gegenüber. Die Übertrag¬ 
barkeit bolschewistischer Staatsweisheit schien also hier ungleich günstigere Aus¬ 
sichten zu haben als bei dem Vorstoß nach Westeuropa. Insbesondere gilt das für 
China, wo die Emissäre Moskaus eine außerordentlich rührige Tätigkeit entfalten. 
Auf der letzten Tagung des Vollzugsausschusses der Moskauer III. Internationale 
ist nach einem Bericht in den „Dernteres Nouvelles“ beschlossen worden, das Schwer¬ 
gewicht der revolutionären Tätigkeit nach China, Indien und Zentralasien zu verlegen 
und unter Ausnutzung des Mossulkonfliktes den Gegensatz zwischen England und 
der Türkei kräftig zu fördern. Der günstige Boden, den besonders China mit seiner 
kulturell tief stehenden und schlecht bezahlten Arbeiterschaft für die Ausbreitung 
der Leninschen Lehre zu bieten schien, ist von der Sowjetregierung längst richtig 
erfaßt. In Moskau ist Ende vorigen Jahres auf den Namen des Dr. Sun Yat-sens, des 
verstorbenen ersten Präsidenten der chinesischen Republik, eine chinesische Uni¬ 
versität mit Radek als Rektor eröffnet worden. Die etwa 250 Zuhörer dieser Uni¬ 
versität gehören dem linken Flügel der Kuomintang-Partei an, die in Kanton ihren 
Hauptsitz hatte und die radikale Intelligenz Chinas repräsentiert. Die Aktivität 
ihrer Propaganda ist zwar durch die wechselnden militärischen Ereignisse zeitweilig 
geschwächt worden, sie wird aber von den Sowjetvertretern immer wieder mit jener 
Zähigkeit fortgesetzt, die den russischen Diplomaten im Verkehr mit asiatischen Völ¬ 
kern in einer Schule von Jahrhunderten zu eigen geworden ist. Gelingt es Moskau, 
Zentralasien, die Mandschurei und China in den Rahmen bolschewistischer Ideen 
zu spannen, so wäre das ein Vorgang von größter Tragweite, der nicht nur auf die 
Geschicke Asiens, sondern auch auf die Europas, und nicht zuletzt Deutschlands, 
zurückwirken müßte. Denn ein von der Sowjetregierung beherrschtes Asien würde 
dem gesamten Westen gegenüber eine Kampfstellung einnehmen und eine neue 
Grundlage für den Versuch einer Weltrevolution bilden. 
Welche Aussichten bestehen nun, daß der Bolschewismus seinen Siegeszug auf 
den asiatischen Erdteil ausdehnt und jene Völker, die wir als Kolonialvölker, 
im weitesten Sinne des Wortes, bezeichnen, für die Lehren Lenins gewinnt? Es ist 
heute kaum möglich, auf diese Frage eine Antwort zu geben, die von den tatsächlichen 
Ereignissen nicht widerlegt werden könnte. Selbst der bald zehnjährige Bestand der 
Bolschewistenherrschaft im europäischen Rußland gibt noch keinen Anhaltspunkt für 
die Beurteilung ihrer Lebensfähigkeit, denn in der ungeheuren sarmatischen Ebene 
mit ihrer schwachen und ungleich verteilten Bevölkerung und den ganz unzuläng¬ 
lichen Verkehrsverhältnissen vollziehen sich politische und soziale Wandlungen in 
einem viel langsameren Tempo, als in dem dicht bevölkerten europäischen Westen 
mit seiner auf einen engen Raum zusammengedrängten Bewohnerschaft. Der 
Zusammenhalt aller staatlichen Atome, aller Einzelpersönlichkeiten und gesell¬ 
schaftlichen Organisationen ist hier viel enger und daher auch aktiver als in Rußland. 
Unter den Romanows galt das Wort: Gott ist hoch und der Zar ist weit. Das heutige 
offizielle Rußland kennt zwar keinen Gott und der Zar ist auch nicht mehr da, aber 
die vis inertiae des Volkscharakters ist die gleiche geblieben, ebenso wie der geogra¬ 
phische Charakter des Landes, beides in gegenseitiger Bedingtheit. 
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