Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

Alexander Elfenbein: Zur Entwicklung des Bolschewismus 
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Jahrzehnt sich vor dem blutigen Terror einer kleinen Gruppe beugen. Es fehlt in 
Rußland jene soziale Schicht, die in jahrhundertelanger Arbeit einen materiellen und 
politischen Besitzstand erworben hätte, den sie unter keinen Umständen preiszu¬ 
geben bereit wäre. In diese große Lücke der gesellschaftlichen Entwicklung ist der Bol¬ 
schewismus eingedrungen ohne Gegendruckzu empfinden. Das erklärt seine langeDauer. 
Die absolute Monarchie ist in Rußland nicht die älteste Staatsform. Ihr ist eine 
lange Periode vorangegangen, die den Anschein erwecken konnte, als ob im großen 
sarmatischen Tiefland sich eine ähnliche Entwicklung vollziehen würde, wie etwa im 
deutschen Süden, wo fürstlicher, städtischer und bäuerlicher Besitz die Grundlage für 
eine reichgegliederte Form staatlichen Lebens wurden. Neben den zahlreichen Teil¬ 
fürstentümern, die den früheren deutschen Kleinstaaten entsprechen, finden wir auch 
in Rußland bis in das 15. Jahrhundert hinein die Ansätze zur Bildung eines freien 
städtischen Bürgertums. Wie im Deutschen Reich die Lehnsherren dem Kaiser¬ 
tum gegenüber ihre Selbständigkeit zu wahren wußten, so schränkten in Ru߬ 
land die Bojarengeschlechter auch die zarische Macht ein. Erst im 15. Jahrhun¬ 
dert erfuhr diese politische Schichtung einen Wandel. Johann III. hatte die Ab¬ 
hängigkeit vom Tatarenjoch beseitigt. Dieser große staatspolitische Erfolg wurde 
der Ausgangspunkt für eine innerpolitische Umgestaltung, die Johann III. 
und seine Nachfolger, vor allem Johann IV., der Schreckliche, mit größter Tatkraft 
durchführten. Es handelte sich darum, das bisher wesentlich auf föderalistischer 
Grundlage aufgebaute Rußland in eine zentralistische Bureaukratie umzuwandeln, 
und zwar mit einer dominierenden Machtstellung (Moskaus). Erstmals erscheint im 
15. Jahrhundert der Titel „Selbstherrscher“ für die Moskauer Zaren. Die Macht¬ 
vollkommenheit, die dieser byzantinischen Vorbildern entlehnte Titel ausdrückt, 
wird innerpolitisch allerdings erst allmählich verwirklicht. Aber von Anfang an 
bedeutet die Selbstherrschaft eine Kampfansage an alle Gewalten, die der absoluten 
Monarchie noch entgegenstanden. Die Beschränkung der Bojarenmacht, die Be¬ 
seitigung ständischer Rechte und die Niederwerfung des freien Bürgertums in den 
Städten bildeten die Etappen einer mit Blut geschriebenen Politik, die in anderthalb 
Jahrhunderten alle mit dem Zarentum wetteifernden Gewalten niederrang. Die 
„Selbstherrschaft" erstickte die bürgerliche Gesellschaft in Rußland zu derselben 
Zeit im Keime, wo sie in Westeuropa bereits zu hoher Macht gelangt war. 
Seine Vollendung hat das automatische System allerdings erst unter Peter d. Gr. 
gefunden. Das Werk dieses Herrschers gipfelte in der völligen Vernichtung 
des altrussischen Lebens in seiner geheiligten Überlieferung, seiner natürlichen 
Entwicklung und seinen staatspolitischen Formen. Auf den in seinen Tiefen 
erschütterten Rumpf wurde dann in größter Eilfertigkeit ein Überbau gesetzt, der 
dem russischen Leben völlig wesensfremd war, nämlich der ganze äußere Apparat 
absolutistischer Staatsmaschinerie, wie man ihn im westlichen Europa zu Anfang 
des 18. Jahrhunderts vorfand. Die Geschichte preist Peter d. Gr. ob dieser Tat als 
j den großen Reformator seines Landes. Aber das russische Volk hat diese Reform 
niemals völlig verdaut, und die Slavophilen sind schwer zu widerlegen, wenn sie be¬ 
haupten, daß jene überstürzte Europäisierung, die die geschichtliche Entwicklung 
gewaltsam unterbrach, ein schweres Unglück für Rußland gewesen sei. Was in 
Westeuropa in Jahrhunderten herangereift war, sollte in Rußland in Jahrzehnten 
nachgeholt werden, aber ohne die gleichen Voraussetzungen^ Ein großes Zwischen¬ 
glied wurde übersprungen. Während in Westeuropa der Absolutismus allmählich 
in den bürgerlichen Staat überging, fehlte in Rußland die bürgerliche Gesellschaft, 
die den gleichen Prozeß hätte herbeiführen können. Hätte die zarische Selbst¬ 
herrschaft ständig den Gegendruck eines kraftvollen, aus der Selbstverwaltung her¬ 
vorgegangenen Mittelstandes empfunden, so wäre aus der Reibung beider aller 
Voraussicht nach eine beschränkte Monarchie mit demokratischem Einschlag hervor¬ 
gegangen, ganz sicher aber nicht der Bolschewismus. Die Selbstherrschaft hat diesen 
Gegendruck zerstört und dadurch den Boden für den Bolschewismus vorbereitet. 
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