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Entwicklung des Bolschewismus
und Spanien. In Arabien hat der Ruf „Hedschas den Hedschaern“ in Ihn Saud
einen kraftvollen Führer gefunden, der durch eine Personalunion mit dem Lande
der Wahabiten den panarabischen Gedanken der Verwirklichung näherzubringen
sucht. Eine Zusammenfassung der islamitischen Welt Afrikas stößt zwar auf das
große Hemmnis innerer Spaltungen, die in religiösen Gegensätzen ihre Ursache haben,
muß aber immerhin unter die Zukunftsmöglichkeiten eingestellt werden. Erinnern
wir uns weiter, daß nach amerikanischen Zeitungsmeldungen wieder ein Weltkongreß
der Negervölker geplant ist, auf dem die schwarze Welt für ihre bürgerliche Gleich¬
berechtigung den Kampf führen will1), so sehen wir, daß rund um Europa ganz neue
politische Ideen wach geworden sind.
Unter diesen Ideen, die sich heute gegen die westeuropäische Kultur richten,
steht der Bolschewismus unstreitig obenan, denn er kann außer auf eine neun¬
jährige Geschichte auch auf ein Herrschaftsgebiet verweisen, das nicht nur den ge¬
samten Osten Europas umfaßt, sondern darüber hinaus durch eine zielbewußte Propa¬
ganda auf alle Völkerschaften Asiens Einfluß zu gewinnen sucht. Das ist eineTatsache,
an der wir nicht vorbeikommen, obwohl alle, die als Kenner russischer Verhältnisse
gelten oder sich dafür ausgeben, dem Bolschewismus nur kurze Lebensdauer zu¬
sprachen, wozu sie nach westeuropäischen Begriffen auch gewiß berechtigt waren.
Es ist deshalb wichtig, sich über die Ursachen klar zu werden, die dem Bolschewik
mus eine so lange Lebensdauer und eine so gewaltige Ausdehnung sicherten, obwohl
noch nichts von den verheißenen glücklichen Zuständen eingetreten ist.
Man hat die Tatsache, daß ein Hundertmillionenvolk sich einem blutigen Terror
anscheinend widerstandslos fügt, daraus erklären wollen, daß ja dasselbe Volk zwei
Jahrhunderte auch das Tatarenjoch in stiller Duldung getragen hat, und daß der
geistige Terror, den die Selbstherrschaft der Romanows drei Jahrhunderte übe* Ru߬
land verhängte, den an sich weichen slavischen Charakter des russischen Volkes zu
völliger Widerstandsunfähigkeit herabdrückte. Das sind Faktoren, die dem mit
brutalster Gewalt eingeführten Bolschewismus psychologisch die Wege geebnet ha¬
ben; aber zur Erklärung seiner zähen Lebenskraft reichen sie nicht aus. Man darf
auch den Druck, den die gegenwärtigen Moskauer Gewalthaber ausüben, nicht mit
jenem des Tatarenjochs vergleichen. Denn der Mongolen-Chan beschränkte sich
darauf, einen demütigenden Jahrestribut zu erheben, ohne sich in die inneren Ange¬
legenheiten des Landes viel einzumischen. Und schließlich bedurfte es auch nur eines
kräftigen Führers, wie es Johann III. war (1462—1505), um die politische Selbständig¬
keit des Landes wieder herzustellen.
Man muß schon tiefer auf russische Verhältnisse eingehen, um Verständnis für
den Boden zu gewinnen, auf dem sich der Bolschewismus aufgebaut hat und von dem
aus seine Führer heute noch hoffen, die große Weltrevolution zustande zu bringen.
In der Entwicklung Rußlands fehlt ein Glied, das in der Geschichte westeuropäischer
Länder, und besonders Deutschlands, einen festen Wall gegen bolschewistische und
kommunistische Experimente bildete — das Bürgertum. Das deutsche, aus dem
mittelalterlichen Zunftwesen hervorgegangene und in der Schule einer jahrhunderte¬
langen Selbstverwaltung groß gewordene Bürgertum verkörpert eine stahlharte
Überlieferung, die den Bolschewismus nicht nur grundsätzlich ablehnt, sondern auch
stark genug ist, sich seiner Herrschaft zu widersetzen. Diese Überlieferung lebt nicht
nur in den Schichten, die wir als ,»Mittelstand“ bezeichnen, sondern weit nach rechts
und links darüber hinaus. Ja, selbst eine politische Partei, die, wie die Sozialdemo¬
kratie, den bürgerlichen Staat grundsätzlich bekämpft, besitzt doch einen so starken
bürgerlichen Einschlag, daß sie die Moskauer III. Internationale und das ganze
revolutionäre Völkerbeglückungssystem Leninscher Richtung schroff ablehnt.
Ein solches Bürgertum gibt es in Rußland nicht und das ist der stärkste Grund für
die einzig dastehende Tatsache, daß hundert Millionen Menschen jetzt bald ein
*) Über die Anfänge dieser Bewegung vgl. den Aufsatz von Arthur Hübscher, Der
Kampf um Marokko, Novemberheft 1925 der S. M. „Die Verständigung mit England“.
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