Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

Anmerkungen zu einer russischen Reise 
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Die Zukunft nationaler Bewegungen vorauszusagen ist ein schwieriges Ding; denn 
bei ihnen spielen oft geistige und seelische Störungen sowie Persönlichkeitswerte 
eine ausschlaggebende Rolle. Soziale und wirtschaftliche Entwicklungen sind 
leichter abzuschätzen, denn sie folgen primitiven Gesetzen. Im bolschewistischen 
System kreuzen sich diese beiden Hauptimpulse geschichtlichen Werdens. Auch der 
kommunistische Staat hat den Druck der primitiven wirtschaftlichen Kräfte em¬ 
pfunden. Daß er diesem Drucke nachgab, daß er nicht starr an seiner utopischen 
Wirtschaftsform festhält, ist eine für die Beurteilung der Zukunft Sowjet-Rußlands 
wichtige Tatsache. Sie allein schon könnte als Antwort für die Frage genügen, warum 
das so oft totgesagte bolschewistische Rußland immer noch lebe. 
Der Bolschewismus als Wirtschaftssystem lebt heute in erster Linie deshalb noch, 
weil er nicht mehr der ursprüngliche Bolschewismus ist, wie wir ihn aus den ersten 
Jahren der russischen Revolution kennen. Daß der Bolschewismus auch als poli¬ 
tisches System Lebensfähigkeit bewiesen hat, liegt zum Teil daran, daß seine 
Methoden, über die wir an anderer Stelle gesprochen haben, für die Völker Rußlands 
nicht alle neu gewesen sind. Der ordenhafte Aufbau der herrschenden kommu¬ 
nistischen Partei und das Tscheka-Institut ermöglichen in diesem dünn besiedelten 
Lande eine Überwachung aller Regungen der Volksseele, ja fast jedes einzelnen 
Staatsbürgers. Die geringe Bildung und die noch geringere Energie des Durchschnitts¬ 
russen machen Verschwörungen in diesem Lande schwierig. 
Nichts ist bezeichnender für die Festigkeit des jetzt Bestehenden als die Mittel, 
von denen die Feinde des Bolschewismus seinen Sturz erhoffen: die in Rußland 
hoffen auf eine Intervention auswärtiger Mächte, und die im Ausland erwarten eine 
Gegenrevolution in Rußland. Wenn man sich erinnert, daß beide Mittel zusammen, 
ausländische Interventionen und mächtige innere Gegenrevolutionen, nicht einmal 
in den Jahren von 1918 bis 1921 den Bolschewismus zu stürzen vermochten, als er 
noch in den Kinderschuhen steckte und verwaltungsmäßig völlig unorganisiert war, 
woraus schöpft man dann noch die Hoffnung, ihn heute, als straff organisierte Macht, 
mit solchen Mitteln zu besiegen? 
So wie die Dinge liegen ist ein plötzlicher Sturz der roten Herrschaft nur dann 
zu erwarten, wenn die oberste Führerschaft selbst sich ernstlich in die Haare geriete. 
Das Reich Lenins ist zwar nicht so sehr auf einen Einzelnen zugeschnitten, wie das 
alexandrinische oder das napoleonische Weltreich es war. Aber Diadochenkämpfe 
würden auch ihm gefährlich werden, denn sie würden alle inneren und äußeren Feinde 
des Sowjetreiches zu neuen Umsturzversuchen anspornen. Wenn wir also die 
bolschewistische Herrschaft für die Gegenwart und die nähere Zukunft als gesichert 
ansehen müssen, so ändert sich das Bild, wenn wir weiter vorausblicken. Wie werden 
die künftigen Führer aussehen? Was wird aus der Jugend, die jetzt unter der bol¬ 
schewistischen Erziehung heranwächst und diese künftigen Führer stellen soll? 
Die Bolschewik! wissen, welche Bedeutung die Jugend für ihre Zukunft hat, und 
wenden ihrer Erziehung deshalb mehr Aufmerksamkeit zu als irgend etwas ande¬ 
rem. Sicher haben sie die Zahl der Schulen gewaltig vermehrt und in der Verminde¬ 
rung der Analphabetenzahl große Erfolge erzielt. Die neue Generation wird auch weder 
so stumpfsinnig noch so schmutzig sein, wie es die alte besonders auf dem Lande ist. 
Aber diese Jugend wird, buchstäblich vom Säuglingsalter an, so vollgestopft mit 
kommunistischer Propaganda, daß man sich nicht vorstellen kann, wo diese Kinder 
und Halbwüchsigen noch Zeit für ernstliches Studium herbringen sollen. Wenn 
man das anmaßende und selbstbewußte Gebahren der kleinen Knirpse sieht und den 
Schatz an Propagandaphrasen hört, von dem sie überquellen, dann kann man sich 
wohl denken, daß aus ihnen zwar einmal ausgezeichnete Bolschewik! hervorgehen 
werden, daß ihnen aber das Maß von Kenntnissen geistiger Schulung und Selbst¬ 
beherrschung fehlen wird, das die alten Bolschewik! aus bürgerlicher Herkunft 
und bürgerlicher Erziehung besitzen. Diese Kinder lernen vor allem eines nicht — 
gehorchen! Jedoch: es gibt kaum anpassungsfähigere Menschen als die heutigen 
Entwicklung des Bolschewismus (Südd. Monatshefte, 23. Jahrg., Heft 10) 17
	        
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