Volltext: Entwicklung des Bolschewismus

Anmerkungen zu einer russischen Reise 
247 
so gleichgültig und ablehnend gegenüberstehen wie noch vor einem Jahre. Es genügt 
auf die langfristigen Lieferungskredite der britischen Industrie hinzuweisen, die 
gewiß alles weniger denn bolschewistenfreundlich gesinnt ist, und auf die umfang¬ 
reichen amerikanischen Engagements unter eigener und unter deutscher Flagge. Radek, 
der geistreiche Schwätzer, hat einmal ein prophetisches Wort gesagt: ,,Der russische 
Bauer braucht nur zwei Zentimeter tiefer zu pflügen, um die Getreideversorgung 
der Welt völlig umzustoßen." Man braucht nicht so weit zu gehen wie der naive 
General von Schoenaich, der — ein typischer Vertreter jener eingangs gekenn¬ 
zeichneten Vierwochen-Reisenden — aus diesem Bonmot herausgerechnet hat, daß 
dann jeder Mensch auf der Erde täglich soundso viel Gramm Brot mehr essen 
könne; aber wohl kann man sagen, daß das russische Volk, wenn es die impulsiven 
Rippenstöße des Bolschewismus in eine anders geartete Wachheit umsetzt, binnen 
einigen Jahrzehnten von 120 auf 220 Millionen Menschen gewachsen sein wird. 
Kurz: der Osten ist angekurbelt und wird in Gang kommen. 
Ob der kommende Osten ein bolschewistisches Gesicht tragen wird oder nicht, 
wird wesentlich davon abhängen, ob die nächsten Jahre folgender These recht 
geben werden: ,,Der Aufbau Sowjet-Rußlands vollzieht sich im gleichen Tempo wie 
der Abbau des bolschewistischen wirtschaftlichen Sozialismus." Wenn man bedenkt, 
daß das System vor acht Jahren rein kommunistisch begonnen hat, ohne Geldgebrauch, 
Privatwirtschaft, und daß heute Überstunden, Akkordlöhne, Prämiensystem, Gewinn¬ 
beteiligung, Banken, Trusts, ausländische Konzessionen bestehen, dann kann man höch¬ 
stens noch von Staatskapitalismus reden. Von einer völligen Wiederherstellung bürger- 
lich-kapitalistischerVerhältnisse wird allerdingsinRußland keine Rede sein können, um¬ 
soweniger, als auch in den alten kapitalistischen Staaten unter bürgerlichen Regierungen 
wirtschaftlicheümwälzungenvor sich gegangen sind,die sehr stark nachSozialismus oder 
doch nach wirtschaftlicher Hypertrophie des Staates riechen. Es wird vielleicht so sein, 
daß beide Wirtschaftssysteme, das kapitalistische und das sozialistische, einander 
etwas entgegenkommen werden. Den größeren Weg allerdings wird das bolsche¬ 
wistische System zu machen haben. So wie wir die Mehrzahl der Bolschewik! ein¬ 
schätzen, würden sie an einer solchen Entwicklung nicht Kummers sterben, wenn 
sie nur an der Macht bleiben. 
Wird der Bolschewismus leben? 
Die antibolschewistische Propaganda in Europa hat sich zu lange und zu aus¬ 
schließlich auf äußerliche Dinge, wie den Terror, eingestellt, sie hat den Unter¬ 
gang des Bolschewismus zu oft prophezeit, als daß die europäischen Arbeiter ihr 
noch besonders zugänglich sein könnten. Die früheren Übertreibungen haben der 
III. Internationale das Spiel erleichtert. Die blinde Lobhudelei, der auch 
ein Teil der bürgerlichen Presse heute frönt, wirkt im gleichen Sinne. Überdies 
besitzt die III. Internationale in den von ihr begründeten, bezahlten und komman¬ 
dierten kommunistischen Parteien der europäischen Länder ein Instrument, wie 
es kaum je die Propaganda eines fremden Staates besessen hat: sind doch die kom¬ 
munistischen Parteien als legale parlamentarische Fraktionen an der Gesetzgebung 
der Staaten unmittelbar beteiligt. Aufklärung der europäischen Massen über das 
wahre Gesicht des Bolschewismus und vor allem über die unsozialistische Ent¬ 
wicklung, die er genommen hat, wird noch dadurch besonders behindert, daß diejenige 
europäische Presse, die am meisten Gehör bei den breiten Massen findet, das ist 
die sozialdemokratische, über keine unmittelbaren Nachrichtenquellen in Sowjet- 
Rußland verfügt, weil ihre Vertreter dort nicht zugelassen werden. Da sie aus 
bürgerlichen Zeitungen nicht gern etwas abdruckt, ist sie fast ausschließlich auf die 
menschewistische Emigrantenliteratur angewiesen, die ihrerseits meist wieder aus 
Quellen zweiten Ranges schöpft. Sie sollte bei Bekämpfung der kommunistischen Pro¬ 
paganda lieber nicht mehr so viel von der Tscheka als davon reden, was am bolsche¬ 
wistischen System nicht proletarisch, nicht arbeiterfreundlich bzw. nicht arbeiter-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.