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Das Lied ist aus. Ich klappe das Gesangbuch zu. In ihm
liegt ein ausführlicher Brief über meine Wuchtpläne, mit
Fragen über Pässe, Bahnen und anderes.
Während des nächsten Chorales unterhalten wir uns schon
dreister. Plötzlich zittert das Buch. Ich schaue auf. Meine
Landsmännin ist etwas bleich. Über ihre Schulter beugt sich
ein russischer Offizier. Ich spüre die Stille meines Herzens,
das ausgesetzt hat. Ein krampfhaftes Beherrschen, dann singe
ich ruhig weiter. Der Offizier hat nichts gemerkt.
Zu Hause lese ich den Brief. In ihm steht viel von Vorsicht
— noch wissen sie ja gar nicht, daß ich fliehen will — und daß
vom nächsten Sonntag an bis zum Herbst die Kirche geschlossen
ist. Verdammt, ich halte ja erst einige Fäden in der Hand,
die Hauptsache soll erst losgehen! Die Faden werden doch nicht
jetzt abreißen, jetzt, wo die Sache in Gang kommt?
Einmal kann ich noch handeln, die Russen wissen an
scheinend nichts von der Unterbrechung des Gottesdienstes.
Am Sonntag überrede ich den Wachthabenden, mich und noch
einen Herrn in den Gottesdienst zu lassen.
Vor der geschlossenen Kirchentür erklären die Soldaten,
daß wir umkehren müssen. Ich rüttle an der Tür und lasse
einen Handschuh fallen. Beim.Aufheben lege ich einen klein
gefalteten Brief in grauem Papier auf die oberste Stufe, da
neben ein Fünfkopekenstück., Das Papier hebt stch kaum von
dem grauen Sandstein ab. Nur wer weiß, daß da ein Brief
liegt, kann ihn finden oder der Zufall. Mit Zufällen muß
man rechnen. Der Brief hat weder Adresse noch Unterschrift,
das Geldstück hat seinen besonderen Zweck. Es ist mir aufge
fallen, daß fromme Leute Almosen vor die Kirchentür legen.
Warum ich nicht ? Ein anderes Goldstück lag schon da. So, nun
gilt es, die Posten hinzuhalten, bis eine der Damen kommt.
Ich habe das sichere Gefühl, daß jemand kommen wird.