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machte, fuhr sich der Greis bedächtig über die runzlige
Stirn und kramte die fünfundzwanzigjährigen Kriegszüge
Schamils aus seinem altersschwachen Kopf. Er war ge--
p kommen, um sich mit den modernen Kriegern zu besprechen,
Staub und Sonnenbrand hinderten den Hundertjährigen
nicht. Stundenlang klapperte sein zahnloser Mund auf und
zu. Strecken, die man sich heute scheut mit der Bahn zurück-
r zulegen, hatte dieser Mann durchschritten, raubend, kämpfend,
seinen Herrn verteidigend. Als eine Verräterkugel Schamil
niederstreckte, war er durch die Wüsten und Berge Persiens
nach Mekka gepilgert und kam als ein Heiliger mit grünem
Turbantuch wieder. Als wir alle seine Geschichten kannten
und das Purpurkleid des Greises immer wieder vor unsererr
r Fenstern auftauchte, versteckten wir uns hinter den Sonnen
blumen. Eine Weile wartete er, nahm dann seinen stählernen
Stock, um den sich einst ein Regenschirm gebreitet hatte, und
wanderte traurig nach Hause.
In den Mittagstunden, wenn nur Fliegensummen in heißer,
müder Luft wachte, las ich in einem französischen Buch, das
Jsmael aus Amerika mitgebracht hatte. Pariser Leben, tolles
Lachen und Genießen raunte in den Zeilen, und draußen vor
dem Fenster schlief der Platz, an den Allah uns bannte. Wir
verloren die Zeitrechnung. Es gab keine Zukunft mehr, nur
Gegenwart, die langsam tickte — tick — tack — wie eine faule
- Uhr, die jeden Augenblick stehenbleiben konnte.
Jsmael blieb öfter halbe Tage fort. Wir hatten den Eindruck,
daß er sich mit unserer Weiterreise beschäftigte. Er machte
nachdenkliche und unruhige Augen. Vielleicht hatte er uns
seine Hilfe zu schnell zugesagt und scheute sich auszuweichen,
denn ein Mohammedaner bricht nie sein Wort. i
Eines Abends hatten wir des Rätsels Lösung, die der Doktor
mit seiner feinen Nase schon lange gewittert hatte. Hinter allem