Volltext: Oö. landwirtschaftlicher Kalender 1913 (1913)

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in einen Torweg hineingelenkt hatte, daß das eine Hinterrad an den Pfosten 
anstieß. Anstatt nun abzusteigen und den Wagen in die richtige Stellung 
zu bringen, ließ er ihn durch die Pferde wohl zehnmal rückwärts und 
wieder vorwärts ziehen, plagte sich und die armen Tiere ganz vergeblich 
und hielt den Straßenverkehr auf. Da rief ein Mann unter den Zuschauenden 
in samländischem Plattdeutsch: „Na dee had ok lewer füllt Musekant wäre, 
nick Fohrmann!" (Der hätte auch lieber Musikant werden sollen, nicht Fuhr 
mann.) Unzähligemale ist mir seitdem diese Äußerung treffender Bolks- 
weisheit eingefallen, wenn ich die grundverkehrte, unsachverständige und 
unverantwortliche Art und Weise, mit welcher Kutscher, Knechte und Fuhr 
leute die Pferde häufig zu behandeln pflegen, ansehen mußte. 
Vor allem nimmt mich die Sorglosigkeit wunder, mit der die Besitzer 
dieser mehr oder minder wertvollen Tiere dieselben der Willkür unkundiger 
und roher Hüter überliefern. Welcher Handwerksmeister würde wohl einen 
Gesellen in seinen Dienst nehmen, der keine Prüfung bestanden hat, der 
ihm sein Werkzeug und Material verdirbt und ihn auf alle Weise schädigt? 
Ist denn aber das Gewerbe des Pserdewärters und Fuhrmanns weniger 
wichtig als jedes andere, daß es nicht erlernt zu werden braucht? Es scheint 
die Ansicht zu herrschen, daß jede Mannsperson, welche die Zügel hallen, 
die Peitsche schwingen kann, dazu tauglich sei. 
Von der Wahrheit des Gesagten kann sich jeder überzeugen, der das 
Gebaren der Fuhrleute in Stadt und Land der Beobachtung unterzieht. 
Stundenlang lassen sie die Pferde mit den Köpfen der glühenden Sonne 
zugewendet oder dem scharfen Winde entgegen stehen; die in Schweiß geratenen 
Tiere bedecken sie entweder gar nicht oder werfen ihnen die Decke so nach 
lässig über, daß nur das Rückgrat davon berührt wird, die Flanken aber 
dem Luftzuge preisgegeben sind. Oft versäumen sie ohne Not das regelmäßige 
Füttern und Tränken, bis die äußerste Erschöpfung eintritt. Bei Glatteis 
werden die Hufeisen nicht eher geschärft, als his die Pferde etliche Male 
gestürzt sind. Mancher ungeschickte Kutscher lenkt beim Wenden so kurz um, 
daß es nur dem Zufall zu verdanken ist, wenn das Pferd sich keinen Schaden 
durch Vertreten zuzieht. Trotz schnellsten Trabes oder möglichst angestrengter 
Fortbewegung der Last sieht man den Geschirrführer oft unablässig die 
Pferde antreiben, als ob dies nun einmal durchaus notwendig wäre. Eine 
der abscheulichsten Gewohnheiten ist das fortwährende Reißen und Rucken 
an den Zügeln. Dieses ist so allgemein im Schwung, daß man sogar schon 
die kleinen Gassenbuben bei ihrem Pferdespiel eifrigst an dem Bindfaden 
zerren sieht, der die Leine vorstellt! Jedes Pferd, das noch nicht völlig abgestumpft 
und hartmäulig geworden ist, muß darunter leiden; eine wahre Höllen 
qual aber muß ihm dadurch verursacht werden, sobald die geringste Ver 
letzung an Zähnen, Gaumen oder Zunge vorhanden ist! 
Zuweilen sind die Backenzähne eines Pferdes scharfkantig und ritzen 
ihm die Zunge wund; sie müssen abgefeilt werden, sonst magert es zusehends 
ab, weil ihm das Kauen wehe tut. Welchem Kutscher oder Knecht fällt es 
indessen ein, das Maul des Pferdes zu besichtigen, wenn dasselbe sich auch 
gegen seine sonstige Gewohnheit unlenksam und störrisch zeigt? Unter hundert 
Fällen wird es gewiß neunundneunzigmal für gut befunden, es durch
	        
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