„Alpenländische Musiker-Zeitung“
90 J
—RVA- Jo I
Anlerhallung
Gymnaslik als Lebenshilfe
Immer weiter verbreitet sich die Erkenntnis vom
Wert gymnastischer Uebungen, und von den verschieden—
sten Seiten geht man an dieses erst vor wenigen Jahr—
zehnten neu entdeckte Gebiet heran, dessen Bedeutung
für die Weiterbildung des Menschen man immer mehr
zu durchschauen beginnt.
Das Neue, das GEymnastik bringt, und worauf ihr
kulturtragender Wert beruht, ist, daß sie im Menschen
wieder echte, organische Bewegung auszulösen versucht.
Es handelt sich bei ihr nicht nur um Kraftschulung
und Gelenkweitung, auch nicht um eingelernte Anmuts—
hewegung. Bewegung ist das Grundelement alles Le—
bens, sie ist damit dem Menschen eingeboren — es
ist nicht die private Begabung einiger Auserwählter
— aber sie ist oft verdet. Der Beruf, die ganze
Lebensweise des heutigen Menschen zwingen ihn oft in
ein bewegungsarmes, naturfernes und einseitiges Dasein
hinein; es entstehen Hemmnisse körperlicher und seeli—
icher Art, die seine Eigenbewegung nicht mehr rein —
nicht mehr harmonisch — in Erscheinung, treten lassen
Alles gymnastische Uehen ist daher zuerst darauf be
dacht, diese Schwierigkeiten im Menschen aufzulockern,
so daß er den Rhythmus seiner Eigenbewegung wieder ent—
decken kann. Und je freier er wird, um so mehr wächst
seine Freude daran, sich zu bewegen, lich zu erleben
im Kräsftespiel mit Luft, Erde und Raum. Dringt er
tiefer in das Gebiet der Bewegung ein, so findet er,
wie dieses fast unbegrenzt ist, und immer reichere Auf—
gaben an uns stellt. Denn es beruht letzten Endes alles
auf Bewegung und äußert sich in Bewegung. Es kann
sich daher nie um die Ausführung einzelner mechanisch
zu erlernender Uebungen handeln, sondern darum, aus
dem ganzen Bewegungsreichtum immer, neue Folgen her—
auszugreifen. Dabei kommt es nicht so sehr auf das Was
an, sondern immer auf das Wie — auf die innere und
äußere Haltung aus der heraus wir üben. Denn äußerlich
dieselben Uebungen erwecken anderes in uns, je nach
dem Sinn, in dem wir sie betreiben. Schauen wir nur auf
den Körper hin, so werten wir wohl die gesundheitsför—
dernde Wirkung der Bewegung aus, aber wir verdecken
uns den Ausblich auf den Umkreis der Werte, die Bewe—
zung für den ganzen Menschen haben kann. Neue Fähig—
keiten erwachsen, neue Maßstäbe für das eigene Können
und für die eigenen Grenzen. Die verschiedensten Kräfte
werden in uns gewedt, denn jede Bewegung beansprucht
uns anders. Wir lernen unseren Willen in der richtigen
Weise einsetzen. Das Ziel ist nicht die Leistung um
jeden Preis, zu der wir uns durch krampfhaften Willen—
einsatz zerren. Wir erkennen bäld beim Ueben, ob unser
Wille zu stark ist oder zu schwach, und können ihn zur
Elastizität erziehen.
Diese Arbeit an der Eigenbewegung fordert von
uns Sammlung. Gerade der heutige Mensch leidet häufiag
an seiner Zerstreutheit — dem Mangel an Gesammeltheit.
Da ist es notwendig, wieder den Schwerpunkt in sich
selbst zu finden, und durch Arbeit an sich selbst, und
damit erwächst zugleich die Fähigkeit und Bereitschaft,
sich auf Anderes und Neues immer wieder ein⸗ und um—
stellen zu können.
ESo dringt die Gymnastik auch befruchtend in andere
Lebensgebiete ein. Sie läßt in uns wieder das Gefühl
ür echte, ungekünstelte Bewegung, wie sie uns in der
Natur, und wie sie uns in der Kunst entgegentritt, er—
starken, das Gefühl für das Echte und Wesentliche über—
haupt. Damit wirkt sie gestaltend und bildend am Men—
schen. Den Menschen bilden heißt: Ihm Form geben, ihn
feiner empfindend, empfänglicher, sehender machen. Zu⸗—
sammenhänge werden erkannt; Unwichtiges, das vorher
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überhaupt kein eigenes Leben zu haben schien, zeigt
Form und Rhythmus. Es erwächst im Menschen ein
Vertrautsein mit seinem inneren Wachsstum und mit den
ßesetzmäßigkeiten aller Lebensvorgägnge. 4
So kann die Eymnastik eine Lebenshilfe sein, ein
Weg zu der Freiheit, das Leben kraftvoll und freudig
zu gestalten, dem eigenen Wesen gemäß. —
Gymnastik zu lehren, wie sie hier in kurzen Zügen
zezeichnet wurde, hat sich besonders die Lohelandschule
— eine deutsche Gymnastikschule bei Fulda — zur Auf—
zabe gemacht. Die in ihr ausgebildeten Gymnastik⸗
iehrerinnen versuchen, in Laienkursen Erwachsene und
Kinder in diese Gymnastik einzuführen.
Die Suype in der Westentasche
In Boston statb kürzlich Professor John D. Dor⸗
rence, Besitzer eines Vermögens von 150 Dollarmillionen,
— Fabriken, Lustjachten, Palästen usw. Er hat
dieses Riesenvermögen verdient, nachdem er seine Profes⸗
ur an der Universität Massachusetts aufgegeben und eine
leine, aber bedeutsame Erfindung gemacht hatte, den
Zuppenwürfel nämlich. Dorrence wurde im Jahre
1858 in Texas als Sohn eines Farmers geboren und
genoß eine gute Erziehung. Er studierte Physik und
Lhemie. Nachdem er einige Jahre lang als Professor, ge—
virkt hatte, kam er zu der Einsicht, daß er mit seinen
wroßen chemischen Kenntnissen in der Industrie weit bessere
Ergebnisse erzielen würde. Er trat zunächst als einfacher
Arbeiter bei der großen Fleischkonservenfabrik Armour
1. Co. in Chicago ein, bei 12 Dollars wöchentlich und
zing dann in die Gemüse-Konserven-Industrie über. Auch
—
Lohn. Da unter den Konserven bisher eine Suppe fehlte,
eschloß Dorrence, hier Abhilfe zu schaffen. Er machte die
derschiedensten Experimente, und nun endlich gelang es
hm, den Suppenwürfel herzustellen; im Jahre 1899 grün—
dete er eine Fabrik, und sein Fabrikat hatte einen so
durchschlagenden Erfolg, daß die Fabrik in kurzer Zeit
iber eine Million Suppenwürfel verkauft hatte. Im
Veltkriege nahm das Geschäft, geradezu phantastische
Formen an. Dorrence nannte seinen Suppenwürfel „Die
Suppe in der Westentasche“, was ein geflügeltes Wort
n Amerika geworden ist. In seinem Testament hat Dor—
rence seiner alten Universität Massachusetts zehn Mil—
lionen Dollars vermacht.
Auch ein Zubiläum
Aus „Menschlichkeitsrücksichten“ haben die Ameri—
kaner die Guillotine (das Fallbeil) als Hinrichtungs—
ustrument abgeschafft und dafür die Elektrizität — unser
Zeitalter gehört ja ihr — zin den Dienst des Staates
gestellt, damit er durch dieses Mittel sein Sühnebe—
gehren, wenn es den Tod eines staatsbürgerlichen Ver—
—
Dreißig Jahre sind vergangen, seit Edison eine
neue Methode erfand, um Menschen auf re Weise
in ein besseres Jenseits zu befördern. Mehr als 2000
Menschen wurden bisher allein in Sing-Sing, dem be—
rühmt-berüchtigten Zuchthaus von Neuyork, durch den
elektrischen Stuhl hingerichtte. — —
Wie gehlt nun eine Hinrichtung vor sich? Abseits
don den riesigen Flügeln, die gegen 4000 Gefangene
eherbergen, liegt das sogenannte „Schlachthaus“, von
den übrigen Gebäuden der Strafanstalt durch hohe Mau—
ern getrennt. Es enthält 24 Zellen für Männer, sechs
für Frauen und sechs für kranke, zum Tod verurteilte
Wirb für die Musiker-Zeitung'!