Volltext: Dachsteinfahrten

54 Hans Reinl 
chen unterschoben, wäre es mir wohl kaum geglückt, nach rechts auf einen Absatz zu 
entwischen. 
Was nachher kam, gehörte ebenfalls schon jener Sorte von Klettersiellen an, die 
man so leicht nicht mehr vergißt. Der heute üblichen Vemeffung nach, könnte es freilich 
nicht mehr zum Allerschwierigsten gerechnet werden, luftig aber war die Sache immer- 
hin, und auch anstrengend genug! Ein ziemlich hoher, etwas feuchter Überhang ergab 
sich erst beim zweiten Anlauf, dann mußten noch mehrere recht schlimme Wandabsätze 
genommen werden, bevor wir auf breitem Plattenbande zu einer kleinen Schutterrasse 
hinüberqueren konnten. 
Zwei Stunden waren schon seit unserem Einstiege verflossen, und immer noch schien 
der Fels zu unseren Häupten kein Ende nehmen zu wollen. Steiler und immer steiler 
wurde die Kletterei, je mehr die Tiefe neben unseren Füßen, in bläulichem Dunst ver- 
schwimmend, wuchs. Dabei zeigte das Gestein eine Festigkeit, wie man sie selten findet. 
Später hatten wir die Wahl zwischen zwei Aufstiegsmöglichkeiten. Ein langer, roter 
Riß spaltete, wie von eines übergewaltigen Blitzstrahles Kraft gezogen, zur Rechten 
das Gemäuer, daneben führte, gewunden gleich einer Wendeltreppe, ein steiles Plat- 
tenband zur Höhe. Seltsame, von Frost und Wetter gemeißelte Runen bedeckten seinen 
Rand. Dann bog sich dieser mehr und mehr nach einwärts, rückte näher an die Wand, 
und mit einem Male war das Band zum überhangenden Kamin geworden! Ein Wind- 
stoß fegte um die Ecke, — noch ein paar Meter und über uns war Luft; ein langer, 
nicht besonders steiler Grat trennte uns noch vom Gipfel, mündete jedoch noch früher 
in den prächtigwilden Nordostgrat des Berges ein, von dessen Türmen ein schlankes, 
scherenartiges, gelbes Zinnenpaar dem künftigen Bezwinger wohl die schwersten 
Rätsel zum Lösen geben dürfte. 
Aber auch unser Grat war keineswegs so zahm, als es den Anschein hatte. Zunächst 
war er noch schmal und brüchig, dann und wann zwangen uns aufgesetzte Türmchen 
zum Queren in die linke Flanke. Ein glattwandiger Absatz, den wir endlich, ebenfalls 
nach links, umgingen, ist mir noch heute in bösester Erinnerung. Dort löste sich ein 
mächtiger Block unter meinem vielleicht etwas zu hastigen Griff, traf mein linkes Knie 
und hätte mich unfehlbar mit hinabgerissen, wäre nicht mein rechter, bis zum Ellbogen 
in einem Spalt verklemmter Arm zum unlösbaren Rettungsanker geworden. Erst als 
wir den Hauptgrat selbst in seinem obersten Teil betraten, war es mit allen Schwierig- 
keiten vorbei, denn die scharfe Schneide hatte sich bereits in einen breiten Geröllrücken 
verwandelt und ließ uns nach kurzem, durch herrliche Fernblicke verschöntem Anstieg 
zur Spitze gelangen. 
Soll man, in der Erinnerung Tiefen wühlend, mit toten Buchstaben die Freude zu 
schildern suchen, die nur jener ermessen kann, dem selbst einmal das wunschlose Son- 
nenglück einer Gipfelrast zuteil geworden? Lange lagen wir neben dem verwitterten 
Steinmann, blickten in den strahlend blauen Iunihimmel oder hinab auf die Gletscher, 
bis uns die Lider brannten; nannten einander die Berge mit Namen; aßen und tranken 
alles mögliche durcheinander; schoben endlich unsere Karten in eine halbzertrümmerte 
Glasflasche und Greenitz schrieb mit einem angekohlten Zündholz die wichtigsten Daten 
der neuen Tur in sein Notizbuch. Zusammenfassend lassen sie sich in die Worte kleiden: 
Wandhöhe gegen 45V m,Dauer der Kletterei drei Stunden, im allgemeinen zuver- 
lässiges Gestein. 
Den Abstieg nahmen wir zunächst auf der gewöhnlichen Linie über den Grat gegen 
den Kleinen Koppenkarstein, 2832 m, bogen dann links ab und turnten an steilen, aber 
gut gebänderten Wandpartien nach der Geyerschen Route zu dem namenlosen, ver- 
steckten Sattel, P. 2673, hinunter, von dem die weißschillernde Schlange des Edelgries- 
gletschers nach Osten zu Tal schießt. Stehend, dann und wann kunstvolle Bögen drech- 
selnd, als hätten wir Schier an den Füßen, sausten wir über den körnigen, nur wenig
	        
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