Volltext: Neuer Braunauer Kalender 1895 (1895)

ahnungsvollen Empfindungen meine Brust immer enger zu¬ 
sammenpreßten. 
Die Verhandlung hatte noch nicht begonnen; ein lautes 
Stimmengewirr erfüllte den Saal. 
Plötzlich trat tiefes Schweigen ein. Ich hörte Schritte 
Schritte — offenbar trat der Gerichtshof ein. 
Der Präsident eröffnete die Sitzung. Nach einigen 
Worten nahm der Staatsanwalt das Wort. 
Wenn ich auch, wie gesagt, nichts von der Verhandlung 
sehen konnte, ich konnte wenigstens jedes Wort hören, und 
ich folgte der Rede des Staatsanwaltes in alhemloser Span¬ 
nung. Ich habe selten eine bessere gehört. Wie furchtbar 
überzeugend er sprach. Mit welcher überlegenen Klarheit er 
die einzelnen Zeugenaussagen ordnete nnd deutete, mit welcher 
Geschicklichkeit er aus diesen unscheinbaren Fäden ein Netz 
wob, ans dem es kein Entrinnen für den Mörder mehr gab, 
denn der Angeklagte war der Mörder, er mußte der Mörder 
sein; daran zweifelte nach dieser niederschmetternden Beweis¬ 
führung ich ebensowenig, wie irgend Jemand im Saale. 
Der Vertheidiger that ebenfalls sein Bestes; doch in dem 
Alibibeweise, durch den er seinen Klienten zu retten versuchte, 
fehlte offenbar das wichtigste Glied. Es stand fest, daß der 
Mord um Mitternacht geschehen sein mußte, mehrere Zeugen 
hatten übereinstimmend bekundet, daß um diese Zeit Hilferufe 
aus dem Komptoir gedrungen waren, in dem der Cassier 
noch allein gearbeitet hatte. 
Der Angeklagte hatte während der ganzen Verhandlung 
unentwegt behauptet, daß er um besagte Zeit nicht einmal 
in der Stadt gewesen sei. Aber er hatte nicht einen einzigen 
Zeugen dafür zu stellen vermocht. 
Unter diesen Verhältnissen war es sicher, daß die Be¬ 
merkungen des Vertheidigers erfolglos bleiben würden. 
„Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen?" fragte 
der Präsident inmitten einer Todtenstille. 
In diesem Augenblick trat mein Vordermann etwas zur 
Seite — und ich erblickte den Angeklagten. Sein Gesicht 
konnte ich nicht sehen, denn er wendete sich dem Präsidenten zu. 
„So wahr Gott lebt", sagte er mit einer ruhigen, 
tiefen Stimme, deren Ton mich seltsam anregte, „ich bin un-
	        
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