Volltext: Neuer Braunauer Kalender 1889 (1889)

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gar erst um 12 Uhr. Wer ist denn mit sechs Uhr schon auf¬ 
gestanden, vorzüglich wenn man am Abend vorher im Theater 
oder in einer Soiree gewesen und erst gegen 1 und 2 Uhr 
zu Bett gegangen war? Kommt ja ein richtiger Pariser nie 
vor Mitternacht in die Federn! Man hätte also um 5 Uhr 
aufstehen, sich in „feines Schwarz" kleiden und wohl noch 
einen langen Weg bis zum Trauerhause machen müssen — 
ohne Zweifel, der gute Monsieur D. verlangte etwas zu viel 
mit seiner seltsamen Forderung, oder es war ein Druckfehler, 
und statt „8IX heures" (6 Uhr) sollte es „dix heures“ 
(10 Uhr, heißen, also ein s für ein 6. Das war wohl am 
wahrscheinlichsten. Man bekümmerte sich deshalb nicht weiter 
um den Trauerbrief. Ohnehin war ja Monsieur D. jetzt todt, 
also nichts mehr von ihm zu holen. 
Am Begräbnißtage und zwar präzis 6 Uhr fanden sich 
demnach von den 400 geladenen „Freunden" nur 29 Personen 
ein, darunter 4 Damen. Der Notar des Verstorbenen war 
ebenfalls gegenwärtig und bat die Anwesenden, ihre Namen in 
ein zu diesem Zweck vorbereitetes Protokoll einzuschreiben, was 
denn auch geschah, wenn auch nicht ohne neues Achselzucken 
über diese befremdliche Formalität. Die Beerdigung fand darauf 
statt und die Geschichte war vorbei, d. h. der erste Akt. Der 
zweite Akt kam ettvas später und zwar wie folgt. 
Acht Tage nach dem Begräbniß erhielten die oben er¬ 
wähnten 29 Personen ein Schreiben von dem Notar, mit der 
höflichen Bitte, sich zu ihm zu verfügen, um eine interessante 
Mittheilung entgegenzunehmen. Monsieur D. hatte nämlich in 
seinem Testamente folgende originelle Bestimmung gemacht: 
„Art. 3. Die Stunde meiner Beerdigung soll int Winter¬ 
halbjahre auf präzis 6 Uhr morgens festgesetzt sein. Meine 
vielen „guten Freunde", die niich so lieb gehabt und mir 
stets versichert haben, nicht ohne mich leben zu können, mögen sich 
auch einmal meinetwegen „derangiren" und in ihrer Bequemlichkeit 
stören lassen; ich habe mich oft ihretwegegen „derangirt" und 
meinen Freunden ein Opfer gebracht. Sämmtliche Herren und 
Damen, die sich zur bezeichneten Stunde zu meiner Beerdi¬ 
gung eingefunden haben, werden ihren Namen in ein Protokoll 
eintragen, das mein Notar mitnehmen wird. Acht Tage später 
soll mein Notar sie alsdann einladen, bei ihm ein kleines 
freundschaftliches Andenken an mich in Empfang zu nehmen, 
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