Volltext: 217. Heft 1914/18 (217. Heft 1914/18)

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Öffentlichkeit entzieht. Eine besonders verhängnisvolle 
Wirkung entstand aus der unvermittelten Plötzlichkeit, 
mit der dieser eine vernichtende Wirklichkeit ankündigende 
Entschluß an die Stelle der bis dahin nur Siegeszuver¬ 
sicht atmenden Heeresberichte trat. Es wurde dadurch 
ein Mißtrauen bestätigt, das schon seit einiger Zeit 
begonnen hatte, sich in die Seele des deutschen Volkes 
einzufressen. Dieses Mißtrauen erwuchs aus der all¬ 
mählich bekannt werdenden Höhe der Verluste in den 
letzten Kämpfen. Es ist selbstverständlich, daß eine Heeres¬ 
leitung nicht vor der Öffentlichkeit — und somit auch vor 
dem Feinde — Rechnung legt über die Opfer, die der 
Kampf gekostet hat. Hier aber war das deutsche Volk 
künstlich in dem Glauben erhalten worden, daß die Ver¬ 
luste sich immer noch auf dem verhältnismäßig niedrigen 
Stande erhielten, der während 
der Offensive im Frühjahr sest- 
gestellt werden konnte. 9hm er¬ 
fuhr man, daß die Opfer an 
Menschen und Material eine er¬ 
schreckende Höhe erreicht hatten 
und den Bestand unsrer Front 
auch dann in Frage stellten, wenn 
die Truppen nach wie vor ihre 
Pflicht bis zum äußersten taten. 
So bemächtigte sich, als das Ein¬ 
geständnis bekannt wurde, daß 
wir nicht länger kämpfen konnten, 
weiter Kreise des Volkes die 
lähmende und erschütternde Über¬ 
zeugung, daß sie schon seit längerer 
Zeit durch die Berichte der Obersten 
Heeresleitung getäuscht worden 
seien. Das war in dem Um¬ 
fange, wie es angenommen wurde, 
sicherlich nicht richtig; denn zweifel¬ 
los hatte die Oberste Heeres¬ 
leitung den guten Glauben, der be¬ 
drohlichen Erscheinungen der Auf- 
löfung und des Unterliegens noch 
Herr werden zu können, und so¬ 
lange sie diesenGlaubennoch hatte, 
war es auch ihre Pslicht, ihre Karten verdeckt zu halten. 
Aber die schlimme Wirkung war nun einmal da; sie 
bestand zunächst in einem völligen Zusammenbruch 
dessen, was man sehr bezeichnend die Heimatfront ge¬ 
nannt hat. Im Großen Hauptquartier fcheint man die 
Überzeugung gehabt zu haben, daß dieser Zusammen¬ 
bruch auch den andern der Heeresfront selbst im Gefolge 
haben müsse, und noch mehr fand eine solche Meinung 
ihre Stätte bei unfern Feinden. Deshalb wurde die 
Gewährung des Waffenstillstandes, der sogleich von der 
deutschen Reichsregierung erbeten worden war, durch 
die Art der Behandlung der Frage so lange wie möglich 
hingezögert, in der Hossnung, daß auch das Feldbeer 
die Nerven verlieren werde. Darin sahen sich unsre 
Gegner getäuscht. War unsre Front wirklich an ver¬ 
schiedenen Stellen wankend geworden, so trat angesichts 
der unmittelbar vor Augen stehenden Niederlage gegen¬ 
über einem von Haß und Rache erfüllten Gegner eine 
Selbstbesinnung ein. Der Wille zum letzten Stand¬ 
halten brach noch einmal in voller Stärke durch, da es 
sich jetzt in ernster Stunde um den Schutz der geliebten 
Heimat handelte und alle bitteren Vorstellungen, die 
eine von feindlicher Seite geschickt geleitete und von 
gewissenlosen oder unverständigen einheimischen Hetzern 
General Sir Julian Wyng, 
Kommandierender der britischen Truppen in der Cambrai- 
Offenstve. 
genährte Agitation erzeugt hatte, als ob der Krieg von 
gewissen Parteien, Cliquen oder Jnteressenkreisen ab¬ 
sichtlich verlängert werde, nun im Angesicht der ent¬ 
schleierten Gefahr wie Spreu vor dem Winde zer- 
flatterten. Die Front gewann alfo neuen Halt, aber es 
war zu fpät, das Wassenstillstandsgesuch rückgängig zu 
machen. Der Notenwechsel zwischen der deutschen Re¬ 
gierung und dem Präsidenten Wilson ging seinen Gang, 
um erst im November zum Ziel zu führen, nachdem unfre 
Regierung schrittweise durch die Form der Antworten 
des Präsidenten und der in ihnen enthaltenen Forde¬ 
rungen gezwungen worden war, sich immer bestimmter 
in die Stellung des Sich-Unterwersenden zu begeben. 
Aber bis dahin mußte noch weitergekämpst werden — 
trotz der völligen Aussichtslosigkeit des Kampfes! Es 
gereicht dem deutschen Feldheer 
zum höchsten Ruhm, daß es diesen 
aussichtslosen Endkamps bis zuletzt 
mit Ehren durchgeführt hat. Un¬ 
begreiflich und nur durch ein gänz¬ 
liches Zusammenbrechen der Ner¬ 
ven an einer entscheidenden Stelle 
erklärbar bleibt es, daß man es im 
Augenblick des entscheidenden Ent¬ 
schlusses nicht mehr gewagt hat, 
mit dieser Möglichkeit zu rechnen. 
Sonst hätte man wohl nicht darauf 
bestanden, gerade ein Waffen¬ 
stillstandsangebot zu machen und 
dadurch die Brücken zur Fort¬ 
setzung des Kampfes vor aller Welt 
so endgültig abzubrechen, daß die 
Aussicht aus das nahe Ende des 
Kampses der kriegsmüden Heimat 
alle Überlegung und Selbstbeherr¬ 
schung raubte. Ein Friedens¬ 
angebot aus der Grundlage des 
Wilsons chen Programms, wobei die 
Frage des Waffenstillstandes offen¬ 
gelassen und von der Annahme 
der einleitenden Vorschläge ab¬ 
hängig gemacht wurde, hätte unsre 
Truppen mindestens in keine schlechtere Sage gebracht, 
als sie sich während des ganzen Oktobers tatsächlich be¬ 
fanden, und hätte wohl unfre Gegner genötigt, entweder 
unfre maßvollen und auch für sie ehrenvollen und ge¬ 
rechten Vorschläge wiederum abzulehnen und damit ihre 
eigenen kriegsmüden Kreise nochmals vor einen kohlen¬ 
losen und mit Hunger drohenden Kriegswinter zu stellen, 
oder aus Verhandlungen einzugehen, in denen sie uns 
so harte und demütigende Bedingungen, wie wir sie 
nachher unterzeichnen mußten, nicht hätten stellen können. 
Aber im Waffenstillstandsangebot lag von vornherein 
das Eingeständnis, daß wir nicht weiterkämpfen konnten 
oder wollten, und war das einmal ausgesprochen, so 
war nicht mehr darauf zu rechnen, die verbrauchten Nerven 
des Volkes noch einmal zum Entschluß des Widerstandes 
auszupeitschen. Als auch nur der Gedanke eines solchen 
Versuches bestimmtere Gestalt gewann, kam die Revo¬ 
lution und machte alles zunichte. 
Wir haben uns nun also den letzten Kämpfen von 
Anfang Oktober bis zum Beginn des Waffenstillstandes 
zuzuwenden. Es lag kein Grund vor, das bisher beob¬ 
achtete Verfahren zu ändern. Wie bekannt, bestand 
dieses Versahren darin, durch langsame, systematische 
Zurücknahme der vorspringenden Abschnitte der Front
	        
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