Volltext: 19. Heft 1914/15 (19. Heft 1914/15)

die Armeen im ostpreußischen Grenzgebiet im Kampf 
gestanden. In den folgenden Tagen trieben sie noch 
die geschlagenen Russen nach der Grenze zurück. Am 
20. September begannen die Eisenbahntransporte, und 
schon acht Tage später stand eine stattliche deutsche Armee 
in Südpolen bereit, um dort die Operationen zur Ent¬ 
lastung der österreichisch-ungarischen Armee zu beginnen. 
Die Verbündeten hatten sich also jetzt, wie es der 
Lage entsprach, enger zusammengeschlossen und standen 
in einer Linie den Russen gegenüber. Dadurch war 
eine gemeinsame Offensive ermöglicht, und dies war 
der Augenblick, in dem die österreichisch-ungarischen 
Truppen ihre abwartende Stellung verließen, wieder 
gegen den San vorgingen und Przemysl entsetzten. 
Die Basis, aus der der Vormarsch der Verbündeten nach 
Osten erfolgen sollte, war durch die Linie Krakau— 
Kreuzburg in Oberschlesien gegeben. Wenn die Russen 
in ihrer Stellung hinter dem San verblieben oder gar 
im Vertrauen auf ihre Übermacht wieder versuchten, 
ihre Offensive gegen Westgalizien zu erneuern, konnte 
die deutsche Armeein Südpolen über die Weichsel in den 
Rücken der russischen Armee vorstoßen. 
Die Russen hatten freilich dieser Veränderung der 
Lage nicht untätig gegenübergestanden. Schon die 
Niederlagen in Ostpreußen hatten begreiflicherweise Ma߬ 
regeln hervorgerufen, die auf Sammlung und Ergänzung 
der Reste der geschlagenen Armeen hinzielten. Im Zu¬ 
sammenhang damit wurden Verstärkungen in Warschau 
zusammengezogen und Sicherungen auch nach Westen 
vorgeschoben. Als die Russen merkten, daß sich starke 
deutsche Streitkräfte in Südpolen versammelten, be¬ 
eilten sie sich außerdem, einen Teil der in Ostgalizien 
stehenden Truppen nach Südpolen auf das rechte 
Weichselufer zu senden. Schon Ende September erfuhr 
das deutsche Oberkommando, daß sich starke russische Kräfte 
östlich der Weichsel im Vormarsch in nördlicher Richtung 
gegen die Linie Lublin—Kazimierz befanden. Dadurch 
wurde die österreichisch-ungarische Armee bereits von 
dem überstarken Druck der ihnen gegenüberstehenden 
russischen Truppenmacht entlastet und somit der erste und 
nächste Zweck der deutschen Maßnahmen erreicht. 
Es versteht sich von selbst, daß die Russen jetzt die 
Zeit zu nutzen versuchten. Ihr Plan, der durch ihre selbst 
gegen die vereinigten deutschen und österreichisch-unga¬ 
rischen Streitkräfte immer noch bedeutende numerische 
Überlegenheit unterstützt wurde, ging augenscheinlich 
dahin, die deutsche Offensive durch eine entsprechende 
Gegenoffensive über die Weichsel zu verhindern. Zu 
diesem Zweck sollten Teile ihrer Armee die Weichsel unter¬ 
halb Sandomierz überschreiten, während die Hauptkräfte 
über Jwangorod vorgehen sollten. Bon dort aus hoffte 
man den linken Flügel der deutschen Armee umfassend 
anzugreifen, während diese durch die weiter südlich vor¬ 
geschobenen russischen Truppen in der Front beschäftigt 
wurde. Zugleich wurde von Warschau aus Kavallerie 
in der Stärke von etwa sechs Divisionen nach Westen vor¬ 
getrieben, um den Zusammenhang der deutschen Linie 
zu stören und auf die deutschen Verbindungen zu drücken. 
Wie schon früher in Ostpreußen, wurde die russische 
Kavallerie auch hier ihrer Aufgabe nicht gerecht. Sie erlitt 
starke Verluste, besonders bei Konin an der Warta. Die 
Deutschen hatten in diesem Gebiet nur schwache In¬ 
fanterie, die aber gut auf dem Posten war. Ihr nach¬ 
drücklicher Widerstand, vor allem aber die energischen An¬ 
griffe unserer Kavallerie zwangen die Russen bald, wieder 
nach Warschau zurückzuweichen. 
Auch in Südpolen wurde es den Russen unmöglich 
gemacht, ihren Plan auszuführen. Die Verbündeten 
setzten ihren Vormarsch über Kielce in östlicher Richtung 
so schnell fort, daß die Deutschen schon am 4. Oktober 
östlich von Opatow standen, während österreichisch¬ 
ungarische Truppen gegen Sandomierz vorrückten. Bei 
Opatow stießen die Deutschen, die hier über starke, 
jedenfalls dem Gegner überlegene Kräfte verfügten, 
auf die Vorhuten der Russen und warfen sie über die 
Weichsel zurück, womit ein wichtiger Teil des russischen 
Operationsplans schon zunichte gemacht war. Obgleich 
jetzt pon einem Umfassen des deutschen linken Flügels 
in der geplanten Art nicht mehr die Rede sein konnte, 
hielten die Russen doch an der Absicht fest, mit ihren 
Hauptkräften bei Jwangorod und den in der Nähe ge¬ 
legenen geeigneten Übergangspunkten die Weichsel zu 
überschreiten. 
Jwangorod ist eine der starken Festungen, die den 
Aufmarsch russischer Armeen auf dem rechten Weichsel- 
ufer decken sollten, und gilt in Fragen der Landesvertei¬ 
digung und Strategie, neben Brest-Litowsk, Nowo- 
Georgiewsk und der Landeshauptstadt Warschau selbst, 
als einer der wichtigsten Punkte in Russisch-Polen. Die 
Lage der Festung an der Mündung des Wieprsch, der 
zwischen San und Bug der größte Zufluß der Weichsel 
auf dem rechten Ufer ist, hebt schon die Bedeutung der 
Örtlichkeit hervor. Es kommt hinzu, daß Jwangorod un¬ 
gefähr gerade in der Mitte zwischen dem Punkt, wo die 
Weichsel Galizien verläßt und russisches Gebiet erreicht, 
und der Stadt Warschau gelegen ist. Früher lag unweit 
der Einmündung des Wieprsch in die Weichsel der kleine 
Ort Demblin. Die Russen schufen an dieser Stelle die 
starke Festung, die den Namen Jwangorod erhielt und — 
außer dem Halbkreis von Forts, der sie auf dem rechten 
Ufer umgibt — den Stromübergang durch einen Brücken¬ 
kopf, das Fort Gortschakow, und durch drei vorgeschobene 
Forts auf dem linken Weichselufer hütet. Seiner strate¬ 
gischen Bedeutung entsprechend ist Jwangorod auch 
Mittelpunkt und Knotenpunkt wichtiger Verkehrslinien 
geworden. Hier kreuzen sich die beiden Bahnlinien, von 
denen die eine von Sosnowice (an der „Dreikaiserecke" 
an der oberschlesisch-galizischen Grenze) durch das Kohlen¬ 
revier von Dombrowa über die Gouvernementshaupt¬ 
städte Kielce und Radom nach Brest-Litowsk führt, wäh¬ 
rend die andere eine direkte Verbindung zwischen War¬ 
schau und Kiew bildet und die Städte Lublin, Cholm und 
Kowel berührt. Nicht unwichtig für die Kriegführung 
ist es auch, daß gerade in der Nähe von Jwangorod 
mehrere Gelegenheiten für den Stromübergang sind, 
wie sie die Weichsel nicht überall bietet. Denn es handelt 
sich hier um einen gänzlich unregulierten Stromlauf, der 
meilenweit eine völlige, spärlich bewohnte Wildnis durch¬ 
mißt. Übergänge können also — zumal bei der gewaltigen 
Breite des Flusses — nur da ohne allzu große Schwierig¬ 
keiten unternommen werden, wo die Ufergestaltung 
günstig ist und die Nähe nicht zu kleiner, bewohnter Plätze 
die Borfindung geeigneten Materials für Schiffsbrücken 
und größere Fähren wahrscheinlich macht. Solche Orte 
gab es in größerer Nähe von Jwangorod mehrere: ober¬ 
halb der Festung die Städtchen Kazimierz und Nowo- 
Alexandrija, unterhalb die Orte Pawlowica und Ryczywol. 
Alle diese Orte wurden von den Russen tatsächlich be¬ 
nutzt, um beständig wiederholte Übergangsversuche ins 
Werk zu setzen. 
Während die Österreicher und Ungarn in Galizien 
die Offensive gegen die Russen wieder aufnahmen,
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.