eingebrochen war. Bei Morgengrauen rückten sächsische
Jäger in die gefährdeten Grabenstücke, doch wurde stünd¬
lich mit einem entscheidenden Sturm des Gegners auf
den Rest der vorderen deutschen Linie gerechnet. Schon
lag das feindliche Sperrfeuer auf erstem und zweitem
Graben. Nun kam alles darauf an, den beiden Füsilier¬
kompagnien vorn Botschaft zu bringen und Mahnung zum
Ausharren. Man fragte nach einem, der die Todesfahrt
freiwillig übernähme. Da meldet sich ein unscheinbares
Kerlchen, der bisher weder im Guten noch im Schlechten
aufgefallen war. Ein ganz Stiller. Der fagte auf den
fragenden Blick des Kompagnieführers: „Ich tu's gern,
Herr Hauptmann, und mit Gottes Hilfe komm' ich
bestimmt zurück, das fühl' ich." Es lag in Art und Worten
dieses Jägers etwas so Schlichtes, Feierliches und Er¬
habenes, das; alle Umstehenden seltsam ergriffen und
zuversichtlich wurden. — Der Mann glitt aus dem
Graben. Er kam durch den Hagel von Granaten, hart
unter den französischen Gewehren vor sich und in beiden
Flanken, zu den preußischen Kameraden, wirkte dort
durch seine Ruhe und Freundlichkeit wahrhaft erlösend,
und keine Stunde, da sprang er mit einem Satz in den
Jägergraben der zweiten Stellung zurück. Ich muß
noch einmal gehen, sagte er leise, die Kameraden haben
Hunger und Durst. — Er ließ sich nicht abhalten, wiewohl
der Morgen stärker graute. Man bepackte ihn, so viel
nur auf ihn ging. Keiner glaubte, daß er nochmals
durchkommen würde. Einmal meinte man, ein Voll¬
treffer sei mitten über ihm eingeschlagen, und man
konnte sich nicht genug verwundern, als man ihn zwei
Stunden später nach geglücktem Vorstoß bis zum vor¬
dersten Grabe» unter der Besatzung der überlebenden
Füsiliere so still und gleichmütig wie immer traf. Er
brachte vor dem nun einsetzenden Sperrfeuer die todmüde
Besatzung anf einem Wege zurück, den er sich bei seinem
zweimaligen Todesgauge erkundet hatte. Und alle kamen
heil bis Ablain.
Ant 25. September 1915 war es den Engländern
geglückt, im Upernbogen links der großen Straße Meenen
—Apern durch mächtige Sprengungen eine Regiments¬
front einzudrücken und weiter nördlich ant Bellewaarde-
jee in gleicher Breite bis zur zweiten Linie einzudringen.
Nur ein berühmtes sächsisches Regiment hart rechts der
genannten Straße hielt seine Stellung, doch war es in
äußerster Gefahr, da die Engländer alles daran fetzten,
de» gewonnenen Vorteil auszunutzen und von beiden
Flanken das unerschütterliche Regintent zu fassen. Höchste
Eile tat not. Wenn es gelang, die Reserven aus dem
Hintergelände bald heranzubringen, um im forsche»
Gegenstoß die Briten aus den deutschen Gräben zu
werfen, ehe sie sich fest darin verschanzt hatten — so war
die Absicht des Gegners vereitelt.'
Mit den höheren Stäben fehlte jede Verbindung.
Die zahlreichen Leitungen waren zerschossen, denn die
Engländer trommelten auf die Front des sächsischen
Regiments, die Straßen ttnd das gesamte Hintergelände
unaufhörlich. Da erbot sich der Bursche des Majors,
der im Stabsuuterstand der zweiten Linie die Kainpf-
handlung leitete, die Meldung ans Regiment zn über¬
nehmen. „Aber Menschenbeine nutzen uns nichts", be¬
merkte der Major. — „Ach, ich finde schon Pferde",
sagte der Bnrsche, ein gedienter Artillerist. „Wenn ich
nur bis zum SS erbn» dsunt erstand komme; dort stehe»
welche." „Nu» de»»," sprach der Offizier nicht ohne
Rührung, „versuchen Sic das Menschenmögliche".
Der Bursche rannte los. Die schweren Granaten
schlugen um ihn ein. Er nahm den nächsten Spreng¬
trichter und wieder. Schott sah matt ihn im Wäldchen
von Herenthage verschwinden. Im Sanitätsstollen
wollten sie ihm kein Pferd geben. Sein Fordern war
so dringlich, er erklärte, der Kommandierende selber werde
für das eine Sanitätswagenpferd auskommen, das etwa
draufgehe —, daß der Arzt vom Dienst, vom .Heroismus
des Reservisten ergriffen, einwilligte. Und nun begann
die tolle Jagd querfeldein Über alte, verfallende Stel¬
lungen, über wassergefüllte alte Granattrichter, durch
Drahtverhaue von Reservestellungen. Das Pferd blutete
stark, es hatte einen Granatsplitter abbekommen — aber
der Reiter kam heil am Regimentsstand an und schon
spielte der Draht, der die wartenden Reserven heranzog.
Der Bursche, wiewohl erschöpft, ließ sich's nicht nehmen,
mit den alsbald eintreffenden Stoßbataillonen wieder
vorzugehen. Der Oberst bot ihm sein Pferd an, und
der treue Mensch galoppierte den gleichen Weg mit
wichtigen Instruktionen für feinen Major zurück. Das
abgepreschte Pferd stellte er im Sanitätsunterstand ein:
„Hier ist Ersatz!" — fort war er schon.
Beim Kampf gegen Dorf Douaumont im März 1916
hatten es die Essenholer besonders schlecht. Die Truppe
litt trotz eisiger Kälte schwer unter Durst. Heißer Kaffee
war nötiger als alles Essen. Doch ging der Weg zur
Speisestelle durch eine wahre Hölle. Man mußte aus
dem Ehaussourwald im Grunde heraus und über
800 Meter freies Feld. Aber welches Feld: Knietiefer,
kotiger Lehnt, Granattrichter an Trichter und Tag wie
Nacht schweres Feuer aus diesem einzigen Anmarsch¬
gelände. Jedesmal kostete ein Gang zum Essenfassen
kostbare Leute. Der Mannschaften bemächtigte sich nach
zwei Tagen eine solche Nervosität, daß kaum einer mehr
gehen mochte trotz grimmigen Hungers und Durstes.
Nur einer war unermüdlich beim Holertrupp zu sehen:
ein Einjähriger, ein Kerl wie ein Schlagetot, dick und
phlegmatisch. Seine Gruppe hatte ihre liebe Not gehabt,
ihn satt zu kriegen. Er ließ sich lieber bedienen, als daß
er selber zugrisf und lohnte mit Zigaretten und Schnaps.
Er hieß in der Kompagnie „der Einjährige Nimmersatt".
Die Leute wollten ihren Augen nicht trauen, als er
sich vor Verdun „entdeckte". Zuerst meinten sie, der
Hunger triebe ihn. Bald sahen sie, daß es nicht der
Hunger und Durst allein war. Der dicke Schlagetot
empfand eine wahre Wonne dabei, mit dem Tode zu
spielen ... zweimal am Tag. Es war wie eine Wollust
des Heroismus über ihn gekommen. Als geborner Führet
beherrschte er alsbald seinen Holertrupp durch die knotige
Ruhe und grämliche Trockenheit seines Humors in
schlimmer Lage. Wenn er mit seinem Trüppleitt ab¬
rückte und wieder einlief, dann schmunzelten die Leute.
Er brachte seine Getreuen wie der gute Eckart erträglich
durch die Hölle der Höhe 378. Schon schrieben ihm die
abergläubischen Kameraden Unverwundbarkeit zu.
Die Kunde seines Rufes drang bis zur Regiments¬
führung. Man brauchte so einen wie ihn als gegebenen
Meldegänger, denn vorn gittg's schlimm her, Verbindung
mit Artillerie fehlte ganz und jede Strippe, mit Verlusten
kaum gelegt, war binnen einer Stunde zerschossen. Und
was für einen Bombengriff der Oberstleutnant mit dem
„Nimmersatt" gemacht hatte, das ward so recht offenbar
nach den ersten Gängen des kugelrunden Botenläufers,
der nebenher feinen Essenholerdienst getreulich weiter
versah. Sein Glanzstück leistete er am 4. März 1916.