Der Krieg und die erdkundliche Wissenschaft
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Hollands und der Schweiz zeigt, voneinander und werden selbständig. Kein Schlag
wort vermag diese Bewegungen der Mischung und Trennung in Starrheit zu bannen,
auch nicht, wenn es der Präsident der Vereinigten Staaten ausspricht, in denen doch
die mannigfaltigsten Rassen mehr als bloß Bindestrich - Amerikaner sein sollen
und wo man weder Indianer oder Neger oder die gelbe Rasse als gleichwertig an
spricht, noch sie aus dem Staat entläßt. Merkwürdigerweise haben auch Parteien,
die für die Internationale sich erwärmen, für Schonung der Nationen mehr Sinn
als für die Berücksichtigung der Bedürfnisse, die der Staat durch sein Land nach
Lage, Raum und Landesinhalt befriedigen muß, um zu kraftvoller Entwicklung
Platz zu haben. Fehlt dem Staatswesen bei gegenwärtigen Verhältnissen des
Verkehrs und der Volksbeweglichkeit die Fähigkeit, die Nationalitäten zusammen
zuhalten, wie etwa im späten Mittelalter und in beginnender Neuzeit Staatengrenzen
• auch Völkerscheiden, Sprach-, selbst Mundartgrenzen darstellten, dann freilich
bedeutet jede neu hinzukommende Nationalität eine Belastung des Ganzen durch
einen Fremdkörper. Der Krieg hat immerhin an Österreich-Ungarns lehrreichem Bei
spiel nachgewiesen, wie ein Nationalitätenstaat durch die Naturzusammenhänge
seines Landes eine gute Einheit bilden kann. Die böhmische Landmasse, Mähren,
Ungarn, die Alpenländer lagern rings um die Mittellandschaft des Wiener Beckens,
nach außen hin deutlich durch Bergzüge von der Umwelt geschieden, von der
Hauptstadt im Herzen des Staates aber leicht zugänglich, in der Gesamtheit mithin
keineswegs eine lockere Summe erheirateter und erkämpfter Gebiete, deren Summan
den alle ihr Sonderleben führen, vielmehr ein wohlgegliedertes Ganzes aus zwar indi
vidualisierten, doch durch Oberflächengestalt zueinander gehörigen und wirtschaft
lich aufeinander angewiesenen Teilen. Nur Galizien außerhalb des Karpathenbogens
liegt abseits wie das Vorland einer Festung, ist demgmäß auch vom Gegenwartskriege
schwer betroffen und inzwischen verwaltungs- und staatsrechtlich neu eingerichtet
wordeü. Trotzdem, wie es Zeiten gegeben hat, wo das religiöse Bekenntnis verbindlich
war für die Parteiergreifung im Kriege und für Friedensschlüsse, während in den
Kämpfen unserer Tage im Vierbunde die protestantische Hohenzollern- mit der katho
lischen Habsburgermacht, das orthodoxe Bulgarien und der türkische Islam vereint
gegen das orthodoxe Rußland, katholische Italien, protestantische England stehen, so
soll jetzt der Glaube an die Heiligkeit der Nationalitäten, von denen man erst im
15. Jahrhundert etwas ahnt, und die man erst im 17. anfängt, in die Staatskunst als
beachtenswerten Begriff einzuführen, einen maßgebenden Wert erlangen. Der Geo
graph jedoch sieht in den Nationalitäten eine bewegliche Größe, im, Lande eine staire;
jene wird sich den Notwendigkeiten, die aus dem Staatsraum sich ergeben, eher
ein- und unterordnen können und müssen als dieser Staatsraum sich auf die quellende
oder schrumpfende, innerlich kraftvolle oder untüchtige Nationalität.
Der Geograph sieht im Staate selbst ein Lebewesen, das die Kraft, die im
ruhenden Staatsraum steckt, durch das bewegliche Volk in Macht um&etzt. Gewalt
herrscht darum im Staatenleben nicht minder, wie in der Natur überall, sei es
Gewalt der Geister oder der Leiber. Der einzelne Mensch mildert diese Tatsache,
indem er sich ihrer bewußt wird, durch Sittlichkeit, die zur Selbsteinschränkung,
ja Selbstentsagung führt, sobald die Pflicht gegen andere und die Verantwortlichkeit
für eigenes Tun unangefochtener Besitz des Seelenlebens geworden ist. Bei einer