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Bastian Schmicl
deutsche Geheimnis einzudringen. An sich ist das Alter der chemischen Groß
industrie kein großes, insofern die chemische Wissenschaft selbst erst um das
achtzehnte Jahrhundert herum sich das Ansehen einer solchen geben konnte. In
erster Linie vermochten Frankreich und England eine Großindustrie zu entfalten,
während Deutschland spät nachfolgte, allerdings mit dem Ergebnis, die beiden
genannten nicht nur zu überflügeln, sondern ihnen soweit vorauszueilen, daß
eine Aussicht, es jemals einzuholen, so namentlich unmittelbar vor dem Kriege,
überhaupt nicht mehr bestehen konnte.
Einige Zahlen mögen das Gesagte beweisen. 1850 zählte Preußen etwa 300
chemische Betriebe mit rund 3500 Arbeitern; 1861 bestanden in Deutschland
1500 Fabriken mit 24 000 Arbeitern, 1804 gab es 5-800 Betriebe in Deutschland mit
110000 Arbeitern, 1914 mochten über §000 Fabriken mit 700000 Arbeitern exi
stieren. Eine nicht minder deutliche Sprache reden die Verhältnisse unserer Ein-
und Ausfuhr: 1888 führten wir ungefähr 860 000 Tonnen chemische Rohstoffe ein
und 304 000 Tonnen aus. An fertigen chemischen Fabrikaten wurden damals
195 000 Tonnen eingeführt und 409 000 Tonnen ausgeführt. 1912 stieg die Einfuhr
ziffer auf 1,93 Millionen Tonnen, die Ausfuhr auf 4,10 Millionen Tonnen. Die Ein
fuhr aus dem Auslande sank rasch, während die Ausfuhrkurve erheblich empor
schnellte und, was besonders bemerkenswert, es stieg die Ausfuhr nach Frankreich
und England, von wo wir früher die chemischen Produkte bezogen. Aus kleinen
Verhältnissen hervorgegangen, wie wir selbst an unseren Großfirmen, ja Weltfirmen
der chemischen Industrie ersehen können, wo die Großväter noch in einer einfachen
Waschküche oder Apotheke experimentierten und die soliden Erzeugnisse in den
Handel brachten, beherrschten wir, die Enkel, vor dem Kriege den Weltmarkt.
Am allerauf fallendsten zeigt sich die gewaltige Überlegenheit der deutschen che
mischen Industrie in der Herstellung der Teerfarbstoffe, der Arzneimittel und der
Riechstoffe. Kein Land der Welt hat auf diesen Gebieten auch nur annähernde
Leistungen zu verzeichnen.
Es sei in nachstehendem an einer Reihe von chemischen Produkten gezeigt,
wie die deutsche Großindustrie sich allmählich den Weltmarkt eroberte. Da ist
in erster Linie einer der wichtigsten chemischen Stoffe, die Schwefelsäure, zu
nennen, die technisch wichtigste aller anorganischen Säuren, insofern alle anderen,
so z. B. die Salzsäure, Salpetersäure, mit ihrer Hilfe hergestellt werden und die außer
dem in der gesamten chemischen Industrie, in einer Reihe von namhaften Gewerben
zur Darstellung von Soda und Pottasche (Le Blanc-Verfahren), zur Erzeugung
von Sprengstoffen, Farben, Düngemitteln, zum Füllen von Akkumulatoren und in
der Sprengstoffchemie verwendet wird. Es gibt kaum einen Industriezweig —
man denke nur an die Metallindustrie —, keinen Gewerbebetrieb, wo man auf
diese Säure verzichten könnte. Inwieweit die Schwefelsäure für Bereitung künst
licher Dungstoffe herangezogen wird, zeigt der Umstand, daß wir vor dem Kriege
für die Herstellung von Superphosphat 600 000 Tonnen, zur Herstellung von
schwefelsaurem Ammoniak 200 000 Tonnen verwandten. Bis vor verhältnismäßig
kurzer Zeit war sie ausschließlich ein Produkt der englischen Großindustrie; denn
das seinerzeit hergestellte sogenannte Nordhäuser Vitriolöl konnte nie Anspruch
auf Großbetrieb erheben, und vor allem, was Verbreitung anlangt, nicht mit der