Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

ländern in direkte Waffenstillstandsverhandlungen ein, 
die am 31. Oktober zum Abschluß kamen. Die Türkei 
hatte bedingungslos kapituliert. 
So war denn von den großen Hoffnungen, mit 
denen man einst in Deutschland den Eintritt der 
Türkei in den Krieg begrüßt hatte, nur eine in Er- 
füllung gegangen: Es war dadurch bis zum Kriegs- 
ende die Abschnürung Rußlands und später Rumäniens 
von seinen europäischen Verbündeten aufrecht erhalten 
worden. Das war immerhin nicht wenig. Aber der 
Angriff auf den Suezkanal, das Hineintragen des 
heiligen Krieges nach Indien und vieles andere, was 
das deutsche Publikum im Anfang des Krieges er- 
hofft und erwartet hatte, war ausgeblieben. Der 
heilige Krieg hatte gewiß bedeu- 
tende Kräfte entfesselt, vielleicht wäre 
ohne seine Verkündigung die Tür- 
kei schon nach kurzer Zeit zusam- 
mengebrochen, aber es zeigte sich, 
daß keine religiöse Begeisterung 
die entsetzliche Mißwirtschaft auf- 
wiegen konnte, die im Lande der 
Muselmanen überall herrschte. 
Schmutz, Liederlichkeit, Unordnung, 
Bestechlichkeit waren seit Jahrhun- 
derten dort zu Hause, und die 
Reformen der Jungtürken hatten 
zumeist nur auf dem Papier ge- 
standen. Daran ging die Türkei 
vor allem zu Grunde. Die Tap- 
ferkeit des Heeres dagegen hatte sich 
auch diesmal bewährt, wie von 
jeher. Die Türken sind tapfer kämp- 
send untergegangen. Aber daß 
ihr Untergang unverdient gewesen 
wäre, wird niemand sagen kön- 
nen, der weiß, welche kaum auszudenkenden Scheuß- 
lichkeiten sie sich im Kriege haben zuschulden kommen 
lassen. Daß sie die Gefangenen wenigstens leidlich 
behandelten, dafür sorgten die Deutschen, wo sie 
konnten. Dagegen legte ihnen die deutsche Regie- 
rung nichts in den Weg, als sie in ihrem Reiche 
eine große Armenierverfolgung in Szene setzten. 
Schon in früheren Zeiten bis in die neuere Zeit 
hinein hatten Armenierverfolgungen in der Türkei 
stattgefunden, aber England hatte sich der Bedrängten 
sehr ernstlich angenommen und mehrmals durch 
seine Drohnoten die türkische Regierung veranlaßt, 
gegen die Greuel einzuschreiten. Jetzt, da Englands 
Druck nicht wirkte, wollten die Türken, wie es 
scheint, die Gelegenheit benutzen, sich ihrer Armenier 
zu entledigen. Besondere Veranlassung dazu war 
wohl der durch den heiligen Krieg neu angefachte 
religiöse Fanatismus und zahlreiche Verrätereien, die 
von Armeniern begangen worden waren. Denn aller- 
dings ist dieses Volk keineswegs das, was fromme 
Traktätlein aus ihm machen. Es ist das in der Türkei, 
was die Juden in Ealizien, Polen, Rußland sind, 
womit alles gesagt ist. Aber durch nichts zu recht- 
Staatsmintster Dr. Helfferich. 
fertigen und durch nichts zu entschuldigen ist die 
grauenvolle Bestialität, mit der die Türken gegen 
das ihnen unbequeme, übrigens an Intelligenz weit 
überlegene Volk wüteten. Zu Tausenden wurden sie er- 
schlagen und erschossen, zu Zehntausenden „deportiert", 
d. h. aus ihren Wohnungen gerissen und irgendwo 
in große Lager zusammengepfercht, so ähnlich, wie 
es einst die christlichen Engländer mit den Frauen 
und Kindern der Buren getan hatten und wie es die 
christlichen und noch dazu ritterlichen Franzosen mit 
den deutschen Gefangenen da und dort getan 
haben. Viele Hunderttausend Menschen, Männer 
und Frauen, Greise und Kinder, sind durch Hunger oder 
Mißhandlungen, Schändungen und andere Grau- 
samkeiten hingemordet worden. 
Das deutsche Volk erfuhr von 
allen diesen Schändlichkeiten, dank 
seiner trefflichen Pressezensur wäh- 
rend des Krieges, so gut wie nichts. 
Die christlichen Kreise, die davon 
unterrichtet waren, dursten nichts 
in die Öffentlichkeit bringen. Die 
deutsche Regierung wußte fast alles, 
sie wußte es durch den Feldmar- 
schall von der Goltz, der mehrmals 
gedroht hat, seinen Abschied zu 
nehmen, wenn die Schandtaten 
nicht aufhörten, sie wußte es durch 
ihre Botschaft in Konstantinopel, 
aber sie hat nicht die Kraft gefun- 
den, ihre Bundesgenossen, die doch 
in allen Dingen von deutscher 
Hilfe abhängig waren, zum Auf- 
geben der größten Ehristenverfol- 
gung der neueren Zeit zu bestim- 
men oder zu zwingen. Sie 
wagte es nicht, sie fürchtete, die türkische Re- 
gierung zu verstimmen. Sie hätte es schon aus Klug- 
heit tun müssen, denn selbstverständlich verbreiteten 
die Engländer in der ganzen Welt, die deutschen Kon- 
sulate in der Türkei seien die Anstifter der abscheu- 
lichen Gewalttaten, und selbst unter der niederen Be- 
völkerung der Türkei wurde die Meinung verbreitet, 
das sei „ta'alim el aleman", die Lehre der Deutschen. 
Wenn aber die Klugheit der deutschen Regierung 
nicht so groß war, um sie zum Einschreiten zu 
bewegen, so hätte sie ihr Christentum dazu bewegen 
müssen. 
Es ist ja wohl möglich, ja, es ist leider anzunehmen, 
daß der Kaiser von allen diesen Dingen nichts wußte, 
wie ihm denn alles Unangenehme, Sterbefälle, Nieder- 
lagen und dergleichen, nach Möglichkeit verheimlicht 
wurden, weil seine Umgebung der Meinung war 
„Majestät braucht Sonne". Aber um so furchtbarer wäre 
dann die Schuld der Leute, die Zutritt zu ihm hatten 
und ihn nicht aufklärten. Besonders für seine Hof- 
theologen, die diese Dinge wissen mußten, so gut wie 
sie die Missionsdirektoren usw. wußten, wäre es eine 
unverzeihliche Schuld und eine Versündigung an ihrem 
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