Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

seit Mitte 1915 eine immer rapidere Abnahme der 
Geburten, und sie war ja sehr verständlich. Wer 
wollte in der Zeit der Hungersnot Kinder in die 
Welt setzen, die zum Tod oder zum Siechtum be- 
stimmt erschienen und die womöglich auch ihren 
Mültern Siechtum brachten! Denn wie sollte sich 
bei der herrschenden Lebensmittelnot eine Frau von 
den Folgen einer Entbindung erholen! Viele Frauen 
mußten ja zu den Entbehrungen auch noch die Ar- 
beiten der Männer auf sich nehmen. 
Man muß das alles wissen und sehr wohl be- 
denken, wenn man verstehen will, warum Deutsch- 
land schließlich zusammenbrach, und so elend und 
würdelos zusammenbrach. Der Hunger macht den 
Menschen zum Tier, auch den wohlerzogenen, mit 
sittlichen Grundsätzen ausgerüsteten Menschen, und in 
hungernden, jahrelang hungernden Völkern zerbrechen 
die Triebe der Tierheit mit elementarer Wucht alle 
Schranken der Moral, der Gesetzlichkeit, Zucht und 
Ordnung. Die Lehre „alles, was besteht, ist wert, 
daß es zugrunde geht", findet dann eine günstige 
Stätte bei Millionen, die sonst ruhig in den Tag 
hineinlebten. So kam es, daß die Lehre der halb- 
verrückten Narren, die Rußland zugrunde richteten, 
im deutschen Volke nicht nur einige wenige, sondern 
allmählich sehr viele Anhänger erhielt. Die Leute, 
die auf deutschem Boden die Lehre des Bolschewismus 
verkündeten, waren zumeist Angehörige der Nation, 
die Mommsen einmal als „Ferment der Zersetzung" 
in der ganzen Welt bezeichnet hat. Vorderhand dursten 
sie sich ja auch nicht an die Öffentlichkeit wagen, 
aber sie arbeiteten in der Stille mit größtem Eifer 
und fanden einen starken Rückhalt an der Unab- 
hängigen Sozialdemokratie. Die Mehrheits-Sozial- 
demokratie billigte das Treiben nicht und stand den 
kommunistischen Ideen und Bestrebungen ablehnend 
gegenüber. Sie wollte nicht nur sozialistisch, sondern 
auch demokratisch sein. Die Diktatur des Proletariats, 
wie sie in Rußland während des Sommers und 
Herbstes 1917 angestrebt und im Januar 1918 ver- 
wirklicht wurde, wollte sie nicht. Die Majorität sollte 
regieren, und daß für den Bolschewismus keine Ma- 
jorilät vorhanden war und sicherlich niemals vor- 
Händen sein würde, lag auf der Hand. Aber für 
eine scharfe Absage an die Unabhängigen war sie 
nicht zu haben, suchte immer wieder mit ihnen an- 
zubändein, immer wieder den Riß, der durch die 
Sozialdemokratie ging, zu verkleistern. Es blieb denen 
um Scheidemann und Ebert auch kaum eine andere 
Haltung übrig. „Regierungssozialisten" wurden sie 
von den Unabhängigen genannt. Das klang ihnen 
sehr häßlich in die Ohren und war für die Massen, 
denen sie ihre Wahl verdankten, ein sehr böses Schlag- 
wort. Wer ein echter Sozialdemokrat sein wollte, 
der durfte nicht in den Verdacht kommen, daß er 
ein Knecht der Regierung sei, die aus Junkern, 
Pfaffen und Schlotbaronen bestand. Sonst verlor 
er bei der nächsten Wahl die Stimme seiner Wähler. 
Daher die unentschlossene Haltung der Sozialdemo¬ 
kratie zu ihren Auswüchsen. In mancher Hinsicht 
waren diese Auswüchse den Führern der Partei sogar 
recht angenehm. Denn wenn da und dort Streiks 
ausbrachen und Straßenkrawalle von Rowdys und 
unreifen Burschen angestellt wurden, so konnten sie 
der Regierung sagen: Seht, wir allein halten den 
Ausbruch des Volkszorns noch zurück. Wenn wir 
wollten, so wäre die Revolution jeden Tag zu ent- 
fachen. Die Regierung glaubte das, stürzte unter 
dem Drucke der Angst mitten im Kriege das alte 
preußische Wahlrecht um und gab ein Kronrecht nach 
dem andern preis. So war es unter Bethmann ge- 
wesen, so blieb es bis zum Ende des Krieges, denn 
die Kanzlerschaft des wackeren Dr. Michaelis war nur 
eine kurze Episode, und sein Nachfolger war ein 
Mitglied und seitheriger Führer der Partei, die mit 
der Sozialdemokratie eng verbündet dasselbe Ziel 
anstrebte, nämlich die Parlamentsregierung, und 
die mit derselben Gewissenlosigkeit wie sie ihre Partei- 
suppe am Feuer des Weltkrieges kochte. 
Die Kanzlerschaft des Dr. Michaelis begann am 
14. Juli und endete am 1. November 1917. Also 
gerade 3l/2Monate lang hatte er das Steuer des 
Reichsschiffes in der Hand, dann mußte er es in 
andere Hände legen, keineswegs in kräftigere und 
tüchtigere. Die Kürze seiner Amtszeit erklärt sich 
aus verschiedenen Dingen. Er war den Mehrheits- 
Parteien von vornherein unangenehm, denn sie hatten 
gehofft, daß sie bei der Besetzung des Reichskanzler- 
Postens befragt werden würden. Soweit meinten 
sie schon den Kaiser und seine Regierung mürbe ge- 
macht zu haben. Daß trotzdem Wilhelm II. es wagte, 
wie bisher den obersten Beamten des Reiches aus 
eigener souveräner Machtvollkommenheit zu ernennen, 
war ihnen eine peinliche Überraschung. Noch dazu 
ging dem neuen Kanzler der Ruf voraus, er fei von 
der Obersten Heeresleitung dem Kaiser vorgeschlagen 
oder sogar aufgedrängt worden. Das entsprach zwar 
nicht der Wahrheit, aber es wurde geglaubt und 
erfüllte alle Gemüter in der Sozialdemokratie, im 
Zentrum und beim Freisinn mit großem Mißtrauen. 
Ob er in Wahrheit, wie ihm nachgesagt wurde, ein 
scharfer, schroffer Charakter und der nach dem schlaffen 
Bethmann ersehnte starke Mann war, ist kaum mit 
Sicherheit zu sagen; dazu war er viel zu kurze Zeit 
im Amte. Ein gerader, ehrlicher Mann war er je- 
denfalls, leider auch ein Mann ohne parlamentarische 
Erfahrung und ohne diplomatisches Geschick, und 
deshalb war er besonders unfähig dazu, mit diesem 
Kaiser und mit diesem Reichstage zusammen zu ar- 
beiten. „Er widersetzte sich dem Streben der Parteien 
nach Macht und stand dem Reichstage selbst fremd 
gegenüber", sagt Ludendorff von ihm. Ein solcher 
Kanzler konnte nicht dauern. „Er verbrauchte seine 
Kraft in diesem Kampfe und fand keine Zeit, für 
den Krieg zu arbeiten." 
Das erste, was unter seiner Amtsführung und 
durch ihn oder wenigstens mit seiner Zustimmung 
geschah, war eine vollständige Neubesetzung der 
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