seit Mitte 1915 eine immer rapidere Abnahme der
Geburten, und sie war ja sehr verständlich. Wer
wollte in der Zeit der Hungersnot Kinder in die
Welt setzen, die zum Tod oder zum Siechtum be-
stimmt erschienen und die womöglich auch ihren
Mültern Siechtum brachten! Denn wie sollte sich
bei der herrschenden Lebensmittelnot eine Frau von
den Folgen einer Entbindung erholen! Viele Frauen
mußten ja zu den Entbehrungen auch noch die Ar-
beiten der Männer auf sich nehmen.
Man muß das alles wissen und sehr wohl be-
denken, wenn man verstehen will, warum Deutsch-
land schließlich zusammenbrach, und so elend und
würdelos zusammenbrach. Der Hunger macht den
Menschen zum Tier, auch den wohlerzogenen, mit
sittlichen Grundsätzen ausgerüsteten Menschen, und in
hungernden, jahrelang hungernden Völkern zerbrechen
die Triebe der Tierheit mit elementarer Wucht alle
Schranken der Moral, der Gesetzlichkeit, Zucht und
Ordnung. Die Lehre „alles, was besteht, ist wert,
daß es zugrunde geht", findet dann eine günstige
Stätte bei Millionen, die sonst ruhig in den Tag
hineinlebten. So kam es, daß die Lehre der halb-
verrückten Narren, die Rußland zugrunde richteten,
im deutschen Volke nicht nur einige wenige, sondern
allmählich sehr viele Anhänger erhielt. Die Leute,
die auf deutschem Boden die Lehre des Bolschewismus
verkündeten, waren zumeist Angehörige der Nation,
die Mommsen einmal als „Ferment der Zersetzung"
in der ganzen Welt bezeichnet hat. Vorderhand dursten
sie sich ja auch nicht an die Öffentlichkeit wagen,
aber sie arbeiteten in der Stille mit größtem Eifer
und fanden einen starken Rückhalt an der Unab-
hängigen Sozialdemokratie. Die Mehrheits-Sozial-
demokratie billigte das Treiben nicht und stand den
kommunistischen Ideen und Bestrebungen ablehnend
gegenüber. Sie wollte nicht nur sozialistisch, sondern
auch demokratisch sein. Die Diktatur des Proletariats,
wie sie in Rußland während des Sommers und
Herbstes 1917 angestrebt und im Januar 1918 ver-
wirklicht wurde, wollte sie nicht. Die Majorität sollte
regieren, und daß für den Bolschewismus keine Ma-
jorilät vorhanden war und sicherlich niemals vor-
Händen sein würde, lag auf der Hand. Aber für
eine scharfe Absage an die Unabhängigen war sie
nicht zu haben, suchte immer wieder mit ihnen an-
zubändein, immer wieder den Riß, der durch die
Sozialdemokratie ging, zu verkleistern. Es blieb denen
um Scheidemann und Ebert auch kaum eine andere
Haltung übrig. „Regierungssozialisten" wurden sie
von den Unabhängigen genannt. Das klang ihnen
sehr häßlich in die Ohren und war für die Massen,
denen sie ihre Wahl verdankten, ein sehr böses Schlag-
wort. Wer ein echter Sozialdemokrat sein wollte,
der durfte nicht in den Verdacht kommen, daß er
ein Knecht der Regierung sei, die aus Junkern,
Pfaffen und Schlotbaronen bestand. Sonst verlor
er bei der nächsten Wahl die Stimme seiner Wähler.
Daher die unentschlossene Haltung der Sozialdemo¬
kratie zu ihren Auswüchsen. In mancher Hinsicht
waren diese Auswüchse den Führern der Partei sogar
recht angenehm. Denn wenn da und dort Streiks
ausbrachen und Straßenkrawalle von Rowdys und
unreifen Burschen angestellt wurden, so konnten sie
der Regierung sagen: Seht, wir allein halten den
Ausbruch des Volkszorns noch zurück. Wenn wir
wollten, so wäre die Revolution jeden Tag zu ent-
fachen. Die Regierung glaubte das, stürzte unter
dem Drucke der Angst mitten im Kriege das alte
preußische Wahlrecht um und gab ein Kronrecht nach
dem andern preis. So war es unter Bethmann ge-
wesen, so blieb es bis zum Ende des Krieges, denn
die Kanzlerschaft des wackeren Dr. Michaelis war nur
eine kurze Episode, und sein Nachfolger war ein
Mitglied und seitheriger Führer der Partei, die mit
der Sozialdemokratie eng verbündet dasselbe Ziel
anstrebte, nämlich die Parlamentsregierung, und
die mit derselben Gewissenlosigkeit wie sie ihre Partei-
suppe am Feuer des Weltkrieges kochte.
Die Kanzlerschaft des Dr. Michaelis begann am
14. Juli und endete am 1. November 1917. Also
gerade 3l/2Monate lang hatte er das Steuer des
Reichsschiffes in der Hand, dann mußte er es in
andere Hände legen, keineswegs in kräftigere und
tüchtigere. Die Kürze seiner Amtszeit erklärt sich
aus verschiedenen Dingen. Er war den Mehrheits-
Parteien von vornherein unangenehm, denn sie hatten
gehofft, daß sie bei der Besetzung des Reichskanzler-
Postens befragt werden würden. Soweit meinten
sie schon den Kaiser und seine Regierung mürbe ge-
macht zu haben. Daß trotzdem Wilhelm II. es wagte,
wie bisher den obersten Beamten des Reiches aus
eigener souveräner Machtvollkommenheit zu ernennen,
war ihnen eine peinliche Überraschung. Noch dazu
ging dem neuen Kanzler der Ruf voraus, er fei von
der Obersten Heeresleitung dem Kaiser vorgeschlagen
oder sogar aufgedrängt worden. Das entsprach zwar
nicht der Wahrheit, aber es wurde geglaubt und
erfüllte alle Gemüter in der Sozialdemokratie, im
Zentrum und beim Freisinn mit großem Mißtrauen.
Ob er in Wahrheit, wie ihm nachgesagt wurde, ein
scharfer, schroffer Charakter und der nach dem schlaffen
Bethmann ersehnte starke Mann war, ist kaum mit
Sicherheit zu sagen; dazu war er viel zu kurze Zeit
im Amte. Ein gerader, ehrlicher Mann war er je-
denfalls, leider auch ein Mann ohne parlamentarische
Erfahrung und ohne diplomatisches Geschick, und
deshalb war er besonders unfähig dazu, mit diesem
Kaiser und mit diesem Reichstage zusammen zu ar-
beiten. „Er widersetzte sich dem Streben der Parteien
nach Macht und stand dem Reichstage selbst fremd
gegenüber", sagt Ludendorff von ihm. Ein solcher
Kanzler konnte nicht dauern. „Er verbrauchte seine
Kraft in diesem Kampfe und fand keine Zeit, für
den Krieg zu arbeiten."
Das erste, was unter seiner Amtsführung und
durch ihn oder wenigstens mit seiner Zustimmung
geschah, war eine vollständige Neubesetzung der
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