Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

trachtet. Englische Zeitungen verglichen Osel mit 
Gibraltar und erklärten, seine Besetzung durch die 
Deutschen sei für Rußland eine sehr große Gefahr 
und bilde eine beständige schwere Bedrohung Peters- 
burgs. Am 16. Oktober war Osel völlig in deutscher 
Hand, und der Teil der russischen Flotte, der nun 
endlich den Versuch unternahm, die Deutschen zu 
stören, wurde zur eiligen Umkehr gezwungen. Nach- 
einander eroberten die Deutschen die Inseln 
Moon unter dem Befehl des Generalleutnants von 
Estorff, Dagö und die kleine Insel Schildau und 
besiegten die russische Flotte, die nicht sehr lange 
Widerstand leistete, sondern bald abdampfte, wobei 
sie noch das Linienschiff „Slava" verlor. Sie tat 
wohl daran, denn sie war ihrem Gegner weder an 
Zahl noch an Tüchtigkeit und Ausrüstung gewachsen. 
Am 21. Oktober war die Eroberung der Inseln 
vollendet. Eine gewaltige Beute war in die Hände 
der Deutschen gefallen, 20130 Gefangene, mehr als 
100 Geschütze und vieles Kriegsgerät. Zu weiteren 
Kämpfen von Bedeutung kam es im Oktober und 
November nicht mehr, denn der Winter brach herein 
und machte den Deutschen ein Vordringen unmög- 
lich. Die Russen aber konnten an neue große Offen- 
siven nicht mehr denken. Ihre Heere zersetzten sich 
immer mehr. Die Soldaten desertierten in Massen, 
zeigten nicht die geringste Lust, sich wieder in den 
aussichtslosen Kamps hineintreiben zu lassen und 
waren ja auch so erbärmlich verpflegt, daß man 
ihnen ein gewisses moralisches Recht zum Davon- 
laufen zubilligen muß. 
So entsprang die Friedenssehnsucht der in Ruß- 
land zur Macht gelangten Bolschewisten nicht nur 
ihren friedfertigen Grundsätzen und dem Wunsche, sich 
beim Volke ohne Unterschied der Klassen beliebt zu 
machen, sondern auch der Einsicht, daß mit einem 
solchen Heere nach solchen Niederlagen an einen Sieg 
nicht mehr zu denken war. Deshalb beauftragten sie 
am 20. November den derzeitigen russischen Ober - 
befehlshaber Duchonin, den Feinden einen Waffen- 
stillstand anzubieten, und als Duchonin erst sich in 
Schweigen hüllte, dann Ausflüchte machte, endlich 
sich geradezu weigerte, den Befehl zu vollziehen, so 
setzten sie ihn ab und ernannten Krylenko zum Gene- 
ralissimus aller russischen Heere. Am 29. November 
entfloh Duchonin mit den militärischen Vertretern 
der Entente aus dem russischen Hauptquartier, er 
wurde aber gefangen und von den Bolschewisten 
ermordet. Den Engländern und Franzosen muß 
es wohl schwül geworden sein bei dem, was jetzt 
in Rußland vor sich ging. Die Bolschewistenführer 
Trotzki und Lenin hatten es klar an den Tag ge- 
legt, daß sie auf die bisherigen Verbündeten Rußlands 
nicht die geringste Rücksicht mehr nehmen wollten. 
Sie hatten, trotz des wütendsten Geschreies von London 
und Paris her, die Geheimverträge veröffentlicht, 
die sie in den Archiven der früheren Regierung ge- 
funden hatten. Beweisen die Aussagen des Suchom- 
linow-Prozesses, daß die russische Kriegspartei den 
Feuerbrand des Krieges in die Menschheit geschleu- 
dert hatte, so beweisen diese Akten, daß seit Jahren 
ein Raubzug zwischen der Regierung des Zaren und 
England und Frankreich, Italien und Rumänien 
gegen Osterreich-Ungarn, Deutschland und die Türkei 
vorbereitet worden war. Elsaß-Lothringen sollte 
den Franzosen zurückgegeben, aus dem linksrheinischen 
deutschen Gebiete ein neutraler Staat gebildet werden, 
der frei sein sollte von jeder politischen und wirt- 
schaftlichen Abhängigkeit von Deutschland. Ost- und 
Westpreußen, Posen und Schlesien sollten an Rußland 
fallen. Aus der österreichisch-ungarischen Masse ver- 
langte Rußland Galizien und die Bukowina. Jta- 
lien erhielt das Trentino, einen Teil von Tirol, Trieft 
mit einem Hinterland und Dalmatien. Den Ru- 
mänen wurde Transsylvanien, das Banat und Sieben- 
bürgen zugesprochen. Bosnien, Slavonien und Kro- 
atien sollten unter das Zepter des edlen Serbenpeters 
fallen. Die Türkei wurde in Jnteressenkreisen auf¬ 
geteilt. Ein Stück, mit Konstantinopel, war be- 
stimmt, dem russischen Reiche angegliedert zu werden, 
doch sollte Konstantinopel ein Freihafen sein für alle 
Waren, die weder von Rußland kamen noch nach 
Rußland gingen. Das waren die Ziele der Ratio- 
nen, die behaupteten, für Recht und Gerechtigkeit 
zu kämpfen und das Selbstbestimmungsrecht der 
Völker zu verfechten und zum Schutze der kleinen 
Staaten das Schwert gezogen zu haben. 
Das Vorgehen der Bolschewisten erregte na- 
türlich bei den bisherigen Verbündeten Rußlands 
große Wut, und England, Frankreich und Italien 
erklärten, daß sie die neue Regierung in Petersburg 
nicht anerkennen könnten. Der englische Botschafter 
Buchanan, der Chef der französischen Militärmission 
General Berthelet, der amerikanische Bevollmächtigte 
Kerth intrigierten im russischen Hauptquartier gegen 
den Abschluß des Waffenstillstandes. Aber Trotzki und 
Lenin hatten ein Mittel, die Engländer und Fran- 
zosen zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Am 7. De- 
zember brachte ihre Zeitung „Prawda" einen Aufsatz, 
in dem der Gedanke erörtert wurde, die von Rußland 
mit ausländischen Staaten abgeschlossenen Anleihen 
für ungültig zu erklären und die Verzinsung und 
Tilgung dieser Anleihen einzustellen. Es wurde also 
mit dem russischen Staatsbankerott gedroht. Sofort 
änderten die Herren in London und Paris ihren 
Ton. Von einer Nichtanerkennung der Sowjet- 
regierung war nun auf einmal nicht mehr die Rede, 
und auch der Gedanke eines russischen Sonderfriedens 
konnte in Erwägung gezogen werden. Die klugen 
Leute machten gute Miene zum bösen Spiele, wirkten 
aber insgeheim rüstig weiter auf den Sturz der 
Räteregierung hin. Diese indessen kümmerte sich nicht 
im mindesten um ihre Haltung. Sie tat, was ihr 
beliebte und was sie auch mußte, wenn sie nicht im 
Kriege ihre Macht einbüßen wollte: Sie unterbreitete 
dem siegreichen Deutschland ein Friedensgesuch. Uber 
die Friedensverhandlungen, die sich bis weit in das 
Jahr 1918 hinzogen, wird in anderem Zusammen¬ 
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