Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

eintrat, und der Moskauer Sowjet beschloß nur mit 
einer geringen Stimmenmehrheit, sich an der Zu- 
sammenkunft überhaupt zu beteiligen. 
Kerenski eröffnete die Versammlung mit einer 
Rede, in der die üblichen Phrasen der Freiheits- 
manner nicht gespart wurden und worin er von 
einem deutschen Sondersriedensangebot fabelte, das 
nicht stattgefunden hatte. Er fabelte ferner davon, 
daß die Deutschen einen Angriff gegen die neu- 
errungene innere Freiheit Rußlands planten, und er- 
klärte darauf mit höchstem Nachdruck, daß von einem 
Sonderfrieden nie die Rede sein könne. Man dürfe 
nur vereint mit den Verbündeten Frieden schließen. 
Somit erwies er sich als der Hort Englands und 
Frankreichs in Rußland, weshalb ja auch seine Re- 
gierung von den beiden Mächten nach Möglichkeit 
unterstützt wurde. Aber er sprach damit gegen das, 
was die ungeheure Mehrheit seines Volkes mehr als 
alles andere forderte: Frieden, Frieden um jeden 
Preis, und ganz befremdlich mußte es wirken, daß 
er nun seine Amtsgenossen aufforderte, der Ver- 
sammlung die volle Wahrheit über die furchtbare 
und trostlose Lage Rußlands zu sagen. Da entrollte 
der Minister für Handel und Industrie Prokopowilsch 
ein Bild der ungeheuren Schwierigkeiten des Ver- 
kehrswesens und der Gütererzeugung, der Finanz- 
minister Nekrasow schilderte die jämmerliche Lage der 
Finanzen, die fabelhaften Lohnforderungen der Ar- 
beiter, den Rückgang der Steuerkraft, die immer 
steigende Ausgabe von Banknoten, die in den 
ersten zwei Monaten des Jahres monatlich 423 Mil- 
lionen Rubel betragen habe und seit März monatlich 
832 Millionen betrage. Am niederbeugendsten 
mußte die Rede des Generals Kornilow wirken, der 
augenblicklich Höchstkommandierender des russischen 
Heeres war. Er berichtete, daß die Truppen gänz- 
lich vom Geiste der Zügellosigkeit ergriffen seien. 
Im August hätten sie vier Regimentskommandeure 
und andere Offiziere getötet, ein Regiment sei seelen- 
ruhig abmarschiert 
und nur durch 
die Drohung, es 
bis auf den letz- 
ten Mann zufam- 
menfchießen zu 
lassen, in die Front 
zurückgebracht 
worden. Die wich- 
tigste aller Auf- 
gaben sei die 
Wiederherstellung 
der Armeen. Die 
Autorität derOffi- 
ziere sei völlig da- 
hin, sie müsse 
vor allen Dingen 
wiederaufgerich- 
tet werden. In 
dasselbe Horn 
Wie es in St. Petersburg zuging: Eine authentische photographische Aufnahme eines 
Zusammenstoßes zwischen den Anhängern Lenins und Kerenskis auf dem Newskij- 
Prospekt, bei dem auf die Menge mit Maschinengewehren geschossen wurde. 
stieß der General Alezcejew, und beide Generale 
führten unglaubliche Einzelheiten vor, durch die 
bewiesen wurde, daß das russische Heer gänzlich 
zerrüttet war. Eigentlich mußte jeder Einsichtige 
durch alle diese Reden zu dem Schlüsse kommen, 
daß Rußland am besten täte, auf der Stelle Frieden 
zu schließen, und daß es dem Untergange verfalle, 
wenn der Krieg auch nur noch einige Monate 
dauern sollte. Aber niemand wagte es, das aus- 
zusprechen. In der Schlußrede der Versammlung 
wurde von Demokraten wie Sozialisten die Fort- 
führung des Krieges bis zum Siege gefordert. Die 
Bolfchewisten waren allerdings von der Teilnahme 
an der Reichsversammlung ausgeschlossen gewesen, 
die Stärke ihrer Stellung bestand nun aber darin, 
daß sie dem Volke das versprachen, was ihm 
Kerenski nicht geben konnte oder wollte und was es 
doch so dringend begehrte wie sein tägliches Brot, 
den sofortigen Frieden. Das brachte Kerenski binnen 
kurzer Zeit zum Fall und führte sie zum Siege. 
Ohne das hätten die halbverrückten Zerstörer alles 
Bestehenden niemals die Macht in Rußland erlangt. 
Wie stark sie schon Ende August waren und wie 
wenig Eindruck die ungeschminkten Darstellungen der 
Generale auf sie gemacht hatten, zeigte eine Sitzung 
des Petersburger Sowjets am 31. August. Dort wollte 
Tseretclli über die Moskauer Reichsversammlung Ve- 
richt erstatten, aber man hörte ihn nicht an, sondern 
trat in eine Beratung über die Abschaffung der 
Todesstrafe an der Front ein und beschloß sie auch 
wirklich mit groszer Mehrheit, obwohl der Vorsitzende 
Tscheidse und Tseretelli dagegen sprachen. 
Inzwischen hatte am 23. August ein Prozeß seinen 
Anfang genommen, der in der ganzen Welt das 
größte Aufsehen hervorrief, weil er ein grelles Licht 
warf auf die Vorgänge, die zum Ausbruche des 
Weltkrieges geführt hatten. Es war der Prozeß 
gegen den früheren Kriegsminister Suchomlinow 
und seine Ehefrau, die beide des Hochverrates an- 
geschuldigt waren. 
Er wurde ver- 
handelt vor dem 
Kassationshofe 
des Senates, und 
dort gab zunächst 
der Zeuge Ja- 
nuschkewitsch, der 
frühere General- 
stabschef des ein- 
stigen Eeneralissi- 
mus, folgende Er- 
klärung ab: 
„Zu Anfang war 
beschlossen worden, 
nur die Teilmobil- 
machimg der vier 
Bezirke zu erklären, 
um Österreich-Un- 
garn zu schrecken, 
dann aber wurde die 
Frage erneut ent¬ 
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