Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

verhöhnt und mußte flüchten. Gegen Abend waren 
alle Truppen Petersburgs von ihrem obersten Kriegs- 
Herrn abgefallen, und viele Regimenter hatten ihre 
Offiziere entweder verjagt oder ermordet. Von einer 
unblutigen Revolution, von der die Zeitungen der 
Verbündeten Nußlands bald zu fabeln anfingen, 
kann demnach nicht die Rede sein. Viele hundert 
Menschen haben, das steht schon jetzt fest, allein in 
Petersburg dabei ihr Leben verloren, und wenn erst 
einmal der Schleier gelüstet ist, den die russische 
Zensur jetzt no.ch über diese Vorgänge zu breiten 
vermag, so werden diese Hunderte wohl zu Tausenden 
werden. Mit den Greueln der großen französischen 
Revolution können die Petersburger Metzeleien freilich 
kaum verglichen werden. Dafür sind aber auch die 
Franzosen das Volk der höchsten Kultur, das Volk des 
Marquis de Sade, das Volk, in dessen Seele die 
Verbindung von Wollust und Grausamkeit, die sich 
auch sonst findet, am innigsten vollzogen ist. 
Am Nachmittag trat die Duma zusammen, wobei 
aber sämtliche Mitglieder der Rechten fehlten, und 
wählte einen Vollziehungsausschuß (Exekutivkomitee). 
An seine Spitze trat Rodziankow. Seine wichtigsten 
Mitglieder waren der Kadettenführer Miljukow, der 
Führer der gemäßigten Oktobristen Fürst Lwow, 
der Führer der Sozialen Tscheidse und der Führer 
der Trudowiki, der sich nachher über alle erhob, Ke- 
renski. Die Herrschaft in Petersburg lag in den 
Händen zweier Ausschüsse, des bürgerlichen Aus- 
schusses, an dessen Spitze Rodziankow stand, und 
eines anderen Ausschusses, dessen Führer der Sozialist 
Tscheidse war, des Arbeiter- und Soldatenrates. In 
wessen Händen die eigentliche Macht war, zeigte sich 
am 13. März, als Rodziankow noch einmal mit dem 
Zaren verhandeln wollte. Als daraufhin Tscheidse 
und Kerenski ihren Austritt aus dem Vollziehungs- 
ausschuß erklärten, gaben die bürgerlichen Abgeord- 
neten auf der Stelle nach, und die beiden Revolu- 
tionäre traten wieder ein. In der „Vorläufigen 
Regierung", deren Errichtung noch am 13. besprochen 
wurde, waren die beiden schon durchaus die aus- 
schlaggebenden Männer. Sie setzten in einer gemein- 
samen Sitzung des Vollziehungsausschusses der Duma 
und des Arbeiter- und Soldatenrates durch, daß 
sämtliche Minister verhaftet wurden und daß die Duma 
aufgelöst wurde. Sie erwirkten ferner den Beschluß, 
daß der Zar zur Abdankung aufgefordert, daß eine 
politische Amnestie erlassen, daß alle nationalen und 
religiösen Beschränkungen aufgehoben werden sollten. 
Zur Ausrufung der Republik Rußland dagegen ließen 
sich die bürgerlichen Abgeordneten nicht bereit finden, 
ebensowenig zur Einführung der Selbstverwaltung 
beim Heere und bei der Flotte. Diese Fragen sollten 
gelöst werden durch eine „konstituierende Versamm- 
lung", die, gewählt aus Grund des allgemeinen, 
gleichen und geheimen Wahlrechts, möglichst bald zu- 
sammentreten sollte. Kerenski mußte diese Abmachung 
gegen heftigen Widerstand im Arbeiter- und Soldaten- 
rat durchdrücken. 
Am 14. März erließ die vorläufige Regierung 
folgenden Aufruf: 
„Mitbürger! Das provisorische Komitee der Dumamitglieder 
hat unter Mitwirkung und Zustimmung der Truppenteile in 
der Hauptstadt und der Bevölkerung gegenwärtig eine Stufe 
des Erfolges über die dunkeln Mächte des alten Regimes er- 
reicht, die ihm gestattet, zu einer noch festeren Gestaltung der 
ausführenden Gewalt zu schreiten. Zu diesem Zwecke ernennt 
das provisorische Komitee der Reichsduma zu Ministern des 
ersten Kabinettes aus der Gesellschaft folgende Männer, die 
wegen ihrer früheren politischen und sozialen Tätigkeit das 
Vertrauen des Landes besitzen: 
Fürst G. E. Lwow (Präsident des Semstwoverbandes) wird 
zum Ministerpräsidenten und Minister des Innern ernannt, 
Miljukow (Abgeordneter für Petersburg) zum Minister des 
Äußern, Kerenski (Abgeordneter für Saratow) zum Justiz- 
minister, Nekrasow (Vizepräsident der Reichsduma) zum Ver¬ 
kehrsminister, Konowalow (Abgeordneter für Kostroma) zum 
Minister für Handel und Industrie, Manuilow (Professor an 
der Universität Moskau) zum Minister für öffentlichen Unter- 
richt, Gutschkow (Mitglied des Reichsrats und früherer Präsi- 
dent der dritten Reichsduma, sowie Präsident der vereinigten 
Ausschüsse der mobilisierten Industrie) wird Kriegs- und 
interimistisch Marineminister, Schingarew (Abgeordneter von 
Petersburg) Ackerbauminister, Tereschtschenko, Großindustrieller, 
Finanzminister, Godnew (Abgeordneter von Kasan) Staats- 
kontrolleur, Fürst W.N. Lwow Oberprokurator des Hl.Synods. 
Die neue Regierung will ihre Politik auf folgenden Grund- 
sätzen aufbauen: 
1. Völlige sofortige Amnestie in allen politischen und reli- 
giösen Angelegenheiten, insbesondere für terroristische Hand- 
lungen,-Meutereien, Agrarverbrechen usw.; 
2. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereins- und Versamm- 
langsfreiheit, sowie Streikrecht mit Ausdehnung der politischen 
Freiheit auf die Militärpersonen innerhalb der Grenzen, die 
die militärischen und technischen Verhältnisse gestatten; 
3. Aufhebung aller Standes-, konfessionellen und natio- 
nalen Beschränkungen; 
4. unmittelbare Vorbereitungen zur Einberufung einer 
konstituierenden Versammlung, die, auf dem allgemeinen, 
gleichen, direkten und geheimen Stimmrecht beruhend, die 
Regierungsform und die Verfassung des Landes festsetzen wird; 
5. die Polizei wird durch eine Nationalmiliz mit gewähltem 
Chef, die den Organen der örtlichen Selbstverwaltung unter- 
stellt ist, ersetzt; 
6. die Kommunalwahlen finden auf Grund des allgemeinen, 
gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts statt; 
7. die Truppen, die an der revolutionären Bewegung be- 
teiligt waren, sollen nicht entwaffnet und nicht aus Petersburg 
verlegt werden; 
8. Abschaffung aller Einschränkungen für die Soldaten 
hinsichtlich der sozialen Rechte, die andere Mitbürger besitzen, 
doch nur unter der Bedingung der strengen militärischen 
Disziplin an der Front. 
Die vorläufige Regierung legt Gewicht darauf, hinzuzu- 
fügen, daß sie nicht beabsichtigt, den Kriegszustand zu be- 
nutzen, um die Durchführung der obengenannten Reformen 
aufzuschieben." 
Unter die Männer, oie das Vertrauen des Landes 
besaßen, gehörte demnach Rodziankow nicht. Er war 
erledigt und trat vorderhand im öffentlichen Leben 
nicht mehr hervor. 
An demselben Tage war eine Abordnung von 
zwei Männern, Schulgin und Eutschkow, zum Zaren 
entsandt, die ihn zur Abdankung auffordern sollten. 
Nikolaus II. war am 13. abends aus dem Haupt- 
quartier Mohilew abgefahren. Die Kaiserin hatte 
ihn benachrichtigen lassen, daß ein großer Teil der 
Truppen zu den Aufständischen übergegangen sei. 
Deshalb sollte er nach Zarskoje Selo fahren, um 
mit Rodziankow nun doch Zu unterhandeln. Als 
ihm aber gemeldet wurde, die Bahnstrecke nach dort 
sei nicht mehr sicher, fuhr er nach Veskow. Dort traf 
er den General Ruski, der ihm zur Abdankung riet. 
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