Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

eines Ausschusses versprochen, der über die Abstellung 
der Not beraten sollte. Alles viel zu spät. Der Stein 
war ins Rollen gekommen und nicht mehr aufzu- 
halten. Am 10. März ließ die Regierung an ver- 
schiedenen Stellen auf die Volksmassen schießen, die 
sich in den Straßen zusammenrotteten, und erbitterte 
dadurch das Volk aufs höchste. Am Abend traten 
Ausschüsse von Arbeitern, wie es scheint auch von 
Vertretern der Bürgerschaft, zusammen und beschlossen, 
am andern Tage einen allgemeinen Ausstand zu 
beginnen und der Gewalt die Gewalt entgegenzu- 
setzen, mit anderen Worten: die Revolution zu ent- 
fesseln. So wurden denn am 11. März an verschie- 
denen Stellen der Stadt Barrikaden gebaut, und es 
kam zu regelrechten Straßenkämpfen, bei denen viel 
Blut floß. Aber am Abend war die Regierung 
Herrin der Lage und fühlte sich als solche. Sie erbat 
und erhielt telegraphisch vom Zaren die Erlaubnis, 
die Duma zu vertagen, und der Ministerrat, der 
abends zusammentrat, beschloß, den Aufstand ohne 
jede Nachsicht und Nachgiebigkeit niederzuschlagen. 
An den Straßenecken wurde ein Befehl des Kom- 
Mandanten Chabalow angeschlagen, der den Truppen 
einschärfte, gegen die Zusammenrottungen rücksichts- 
los mit der Waffe Gebrauch zu machen. 
Nach englischen Berichten war aber schon an dem- 
selben Tage ein Teil der Truppen zu den Auf- 
ständischen übergegangen. Einige Earderegimenter 
hatten ihre Offiziere ermordet. Das Preobraschensky- 
Regiment hatte sich der Duma zur Verfügung ge- 
stellt mitsamt seinen Offizieren. Am 12. drahtete 
Rodziankow dem Zaren, der sich an der Front befand: 
„Die Lage ist ernst. In der Hauptstadt ist Anarchie. Die 
Regierung ist gelähmt. Verkehr, Versorgung und Heizung 
sind in voller Verwirrung, die allgemeine Unzufriedenheit wächst. 
Auf den Straßen wird ordnungslos geschossen, Truppenteile 
beschießen sich gegenseitig. Es ist unumgänglich nötig, sofort 
einer Persönlichkeit, die das Vertrauen des Landes genießt, 
die Bildung einer neuen Regierung anzuvertrauen. Eine Ver- 
zögerung ist unmöglich, jedes Zaudern wäre der Tod. Ich 
bete zu Gott, daß in dieser Stunde keine Verantwortung auf 
den Träger der Krone falle." 
Rodziankow erhielt keine Antwort darauf. Er 
wandte sich am 13. früh noch einmal an den Zaren 
mit folgender Depesche: 
„Die Lage verschlechtert sich. Es müssen joforr Maßregeln 
getroffen werden, denn morgen wird es zu spät sein. Die 
letzte Stunde ist angebrochen, in der das Schicksal des Vater- 
landes und der Dynastie sich entscheidet." 
Auch hierauf kam keine Antwort. In dumpfem 
Schweigen sah Nikolaus II. zu, wie sich sein und 
seines Hauses und Rußlands Schicksal erfüllte. Er 
verweilte am 13. im Hauptquartier Mohilew und 
erhielt dort noch eine drohende Warnung und Mah- 
nung, nämlich einen Brief des Großfürsten Nikolai 
Michailowitsch, der ihm von seinem Standpunkt aus 
schonungslos die Wahrheit sagte. 
Es lautete: 
„Du hast oft den Wunsch ausgesprochen, den Krieg bis 
zum Siege durchzuführen. Bist Du aber überzeugt, daß der 
Sieg bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge möglich ist? 
Kennst Du die Lage des Reiches, sagt man Dir die Wahrheit, 
hat man Dir gezeigt, wo die Wurzel des Übels liegt? Du 
hast mir oft gesagt, daß man Dich betrüge und daß Du nur 
Vertrauen in die Gesinnung Deiner Gattin hast. Was nun 
aber die Kaiserin sagt, ist nicht der Ausdruck der Wahrheit. 
Wenn Du unfähig bist, sie den verderblichen Einflüssen, die 
sie umgeben, zu entziehen, so verteidige Dich wenigstens gegen 
jene, die ihr vorschreiben, wie sie zu sprechen habe. Wenn 
Du diese dunkeln Kräfte entfernen könntest, dann würde die 
Wiedergeburt Rußlands ermöglicht und das Vertrauen des 
Volkes, daß Dir zur Hälfte verlorengegangen ist, würde Dir 
erneut zuteil werden. Ich habe lange gezögert, Dir die Wahr- 
heit vor den Kopf zu sagen, aber ich habe mich entschlossen, 
weil mich Deine Mutter und Deine Schwester dazu ermun- 
terten. Du stehst am Vorabend einer Bewegung, ja ich sage 
mehr, am Vorabend eines Attentates auf Dich. Ich spreche für 
das Wohl Deiner Person, Deinen Thron und Dein Vaterland." 
Beide Warnungen kamen zu spät. Der 12.März 
hatte über das Schicksal des Zaren, seiner Familie 
und seines Reiches bereits entschieden. Am Morgen 
des 12. März kam die Revolution in Petersburg 
zum vollen Ausbruch und errang im Laufe des 
Tages einen vollständigen Sieg, weil auch die Trup- 
pen, zum Teil freiwillig, zum Teil gezwungen, sich 
der Bewegung anschlössen. Das Garderegiment Wol- 
Hymen machte in der Morgenfrühe den Anfang mit 
dem Abfall von dem Zaren, das Preobraschensky-Garde- 
regiment und ein Teil des Garderegiments Litauen 
ließen sich gleichfalls dazu bereden. Unter denen, die 
beide Regimenter zum Bruche ihres Fahneneides 
aufforderten, befanden sich sogar Offiziere. Die meu- 
ternden Truppen erstürmten das Arsenal des Li- 
tauenschen Garderegiments und bemächtigten sich der 
Maschinengewehre. Mit ihnen vereinigte sich eine 
große bewaffnete Volksmasse, und Arbeiter und Sol- 
daten erstürmten miteinander das Gebäude der Gen- 
darmerie-Verwaltung und metzelten alles nieder, was 
ihnen vor die Klinge kam. Von dort wälzte sich 
der immer mehr anschwellende Strom nach der Wy- 
borger Vorstadt und nahm die Brücke, die dorthin 
führte, im Sturm, obwohl sie von Truppen mit 
Maschinengewehren verteidigt wurde. Dann eilten 
diese Haufen den Arbeitermassen zu Hilfe, die das 
Moskauer Regiment in seiner Kaserne angegriffen 
hatten. Nach erbittertem Widerstand wurde das Re- 
giment gezwungen, sich zu ergeben, und schloß sich den 
Siegern an. Dieses Regiment war das einzige, soviel man 
weiß, das wirklich ein paar Stunden lang der Revo- 
lution blutigen Widerstand leistete. Die übrigen Trup- 
pen Petersburgs gingen sofort zu den Arbeitern über, als 
die Kunde vom Verrat der Earderegimenter zu ihnen 
drang. Im Verein mit Arbeitermassen erstürmten 
sie das Gebäude der Ochrana (der Geheimpolizei), 
das Bezirksgericht, befreiten die Polizeigefangenen 
des Gefängnisses Kresti und der Peter-Pauls-Festung. 
Diese alte Zwingburg des Zarentums, die sich, wie 
es scheint, ohne Kanonenschuß den Volksführern er- 
gab, wurde nun der Ort, wo der Revolutions-Aus- 
schuß zusammentrat und von wo er seine Befehle 
ausgehen ließ. Kräftigen Widerstand fand die Re¬ 
volution nur bei der Gendarmerie und der Polizei. 
Vergebens rief der Kommandant der Hauptstadt, 
General Chabalow, die Truppen vor dem Winter- 
palais zur Verteidigung des Thrones auf und befahl 
ihnen, gegen die Aufständischen vorzugehen. Er wurde 
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