Volltext: Der Weltbrand Band 3 (3; 1920)

ganz geringe Minderheit, aber ihre Zahl nahm be- 
ständig zu, ihre Unbotmäßigkeit gegen die Partei- 
leitung trat immer schärfer hervor und führte schließlich 
zu einer Spaltung der deutschen Sozialdemokratie. 
Zuerst sagte sich eine kleine Gruppe in der Zweiten 
Kammer des Württembergischen Landtages von der 
Partei los und bildete eine sozialistische Fraktion neben 
der sozialdemokratischen. Es war gewissermaßen ein 
schwäbisches Vorspiel zu dem, was später im Reichs- 
tag geschah. 
Vorläufig wurde die Einigkeit noch künstlich auf- 
recht erhalten. Vom 14. bis 16. August tagten die 
Reichstagsfraktion und der Parteiausschuß gemein- 
sam und berieten über die Kriegsziele der deutschen 
Sozialdemokratie. Als Frucht der Beratungen kam 
folgende Erklärung zustande: 
„In Wahrnehmung der nationalen Interessen und Rechte 
des eigenen Volkes und in Beachtung der Lebensinteressen 
aller Völker erstrebt die deutsche Sozialdemokratie einen Frieden, 
der die Gewähr der Dauer in sich trägt und die europäischen 
Staaten auf den Weg zu einer engeren Rechts-, Wirtschafts- 
und Kulturgemeinschaft führt. . Demgemäß stellen wir folgende 
Richtpunkte für die Friedensgestaltung auf: 
1. Die Sicherung der politischen Unabhängigkeit und Un- 
versehrtheit des Deutschen Reiches heischt die Abweisung aller 
gegen seinen territorialen Machtbereich gerichteten Eroberungs- 
ziele der Gegner. Das trifft auch zu für die Forderung der 
Wiederangliederung Elsaß-Lothringens an Frankreich, einerlei, 
in welcher Form sie erstrebt wird. 
2. Zwecks Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklungsfrei- 
hext des deutschen Volkes fordern wir: 
,Offene Tür", das heißt, gleiches Recht für wirtschaftliche 
Betätigung in allen kolonialen Gebieten; 
Aufnahme der Meistbegünstigungsklausel in die Friedens- 
vertrüge mit allen kriegführenden Mächten; 
Förderung der wirtschaftlichen Annäherung durch mög- 
lichste Beseitigung von Zoll- und Verkehrsschranken; 
Ausgleichung und Verbesserung der sozialpolitischen Ein- 
richtungen im Sinne der von der Arbeiterinternationale er- 
strebten Ziele. 
Die Freiheit der Meere ist durch internationalen Vertrag 
sicherzustellen. Zu diesem Zweck ist das Seebeuterecht zu be- 
fettigen und die Jnternationalisierung der für den Weltver- 
kehr wichtigen Meerengen durchzuführen. 
3. Im Interesse der Sicherheit Deutschlands und seiner 
wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit im Südosten weisen wir alle 
auf Schwächung und Zertrümmerung Österreich-Ungarns und 
der Türkei gerichteten Kriegsziele des Vierverbandes zurück. 
4. In Erwägung, daß AnneXionen volksfremder Gebiete 
gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen, und 
daß überdies durch sie die innere Einheit und Kraft des 
deutschen Nationalstaates nur geschwächt und seine politischen 
Beziehungen nach außen dauernd aufs schwerste geschädigt 
werden, bekämpfen wir die darauf abzielenden Pläne kurz- 
sichtiger Eroberungspolitiker. 
5. Die furchtbaren Leiden und Zerstörungen, die dieser 
Krieg über die Menschheit gebracht hat, haben dem Ideal 
eines durch internationale Rechtseinrichtungen dauernd ge- 
sicherten Weltfriedens die Herzen von neuen Millionen ge- 
wonnen. Die Erstrebung dieses Zieles muß als höchstes sitt- 
liches Pflichtgebot für alle gelten, die an der Gestaltung des 
Friedens mitzuarbeiten berufen sind. Wir fordern darum, 
daß ein ständiger internationaler Schiedsgerichtshof geschaffen 
werde, dem alle zukünftigen Konflikte zwischen den Völkern 
zu unterbreiten sind." 
Es war das alte Lied. Soeben hatte der Krieg 
gelehrt und lehrt es noch alle Tage, daß England alle 
Rechtsfestsetzungen, die seinem Vorteil zuwiderliefen, 
kurzerhand zum alten Eisen warf und ein Seerecht 
überhaupt nicht anerkannte. Aber wieder mußte die 
Freiheit der Meere durch internationale Verträge sicher. 
gestellt werden. Von Kriegsentschädigungen war 
überhaupt nicht die Rede, denn Deutschland war ja 
reich genug, die Kosten des Krieges aus eigner Tasche 
zu zahlen. Einverleibungen feindlichen Gebietes, auch 
wenn sie zum Schutze der Grenzen unerläßlich waren, 
wurden grundsätzlich verworfen, denn sie dienten unter 
allen Umständen der Schwächung des Reiches und 
widersprachen vor allem dem famosen „Selbstbe- 
stimmungsrecht der Völker", das von da an in den 
Reden und Aufsätzen der Sozialdemokratie eine große 
Rolle spielte. Es bezeichnete natürlich etwas ganz 
Unsinniges und Undurchführbares, aber eben deshalb 
eignete es sich vorzüglich zum Schlagwort, ebenso 
wie der „ewige Weltfriede" der in dieser Welt, wie 
sie nun einmal ist, nie eine Stätte haben kann. 
Gleichwohl bewilligte die Mehrheit der Partei am 
21. Dezember 1915 die neugeforderten Kriegskredite 
von zehn Milliarden Mark. Aber eine Minderheit 
von nicht weniger als 20 Mitgliedern stimmte bereits 
dagegen. Somit hatte sich die Zahl der Männer, 
die das Vaterland wehrlos machen wollten, verzehn- 
facht. Begründet wurde die Ablehnung damit, daß 
der Reichskanzler in seiner Rede vom 9. Dezember 
„das verhängnisvolle Treiben der Annexionisten in 
unserem Lande, die das stärkste Hindernis für die 
Friedensverhandlungen bilden", von sich gewiesen habe. 
Der Redner fuhr dann fort: „Unsere Landesgrenzen 
und unsere Unabhängigkeit sind gesichert, an uns 
liegt es, den ersten Schritt zu tun. Wir sollten den 
Gegnern Friedensangebote machen". 
Die Zeit sollte bald kommen, wo diese Gedanken 
im Reichstag die Mehrheit erlangten. Aber die Ver- 
Weigerung der Kriegskredite wurde doch auch von 
der Mehrheit der sozialdemokratischen Partei als 
etwas Sinnloses und Unwürdiges empfunden und 
erregte ihren lebhaften Widerspruch. Infolgedessen 
traten 18 Abgeordnete am 24. März 1916 aus 
der Fraktion aus und bildeten eine neue Fraktion 
die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft". Ihre 
Führer wurden Haase, Ledebour und Dittmann. Eine 
Spaltung der Partei war das noch nicht, konnte und 
mußte aber dazu führen. Immer, wenn Brüder zu 
Feinden werden, wird der Kampf ganz besonders 
gehässig und erbittert geführt, und so geschah es auch 
hier. In zahllosen gegenseitigen Kundgebungen und 
Erklärungen fuhren sich die Genossen gewaltig in die 
Haare, und es begann ein erbauliches Schimpfen. 
Die um Scheidemann nannten die Abgefallenen Treu- 
brüchige, die um Ledebour sahen in den Leuten, die 
dem Kriege nicht durch Verweigerung der Mittel ein 
Ende machen wollten, verwerfliche Bourgeois und 
Knechte der Regierung. Auf die Einzelheiten des 
Zwistes kann natürlich hier nicht eingegangen werden. 
Die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft war 
übrigens nicht die einzige neue Fraktion, die im 
Reichstag auftauchte. Schon zwei Monate vorher, 
am 12. Januar hatten sich 28 Abgeordnete rechts- 
stehender Parteien, Reichsparteiler, Welfen usw., 
zur „Deutschen Fraktion" zusammengeschlossen. Hier 
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