Volltext: Der Weltbrand Band 1 (1; 1915)

französischen Milliarden hätte erfolgen können, denn 
große Teile der Riesensummen waren nach gutem, 
altrussischem Brauche in Taschen geflossen, in die 
sie nicht gehörten. Aber was für die Bedürfnisse des 
Heeres hatte verwendet werden können, war doch 
noch sehr beträchtlich gewesen. Viele Regimenter 
zogen mit guten Stiefeln, tadelloser Bekleidung und 
vorzüglichen Gewehren in den Krieg. Die Munition 
war — einige allerdings sehr üble Ausnahmen ab- 
gerechnet — gut und im Anfange des Krieges auch 
reichlich vorhanden. Später machte ihre Beschaffung 
große Schwierigkeiten, da der Hafen von Archangelsk 
früh zu vereisen pflegt und die Dardanellen gesperrt 
wurden. Nußland konnte weder Geschütze, noch Schieß- 
bedarf in genügenden Mengen selbst liefern, und so 
mußte beides auf dem langen Wege durch Sibirien 
von Japan und Amerika herangeschafft werden. 
Das kostete viel Geld und brachte die russischen Heere 
zuweilen in nicht geringe Schwierigkeiten. Aber wenn 
man in Deutschland vielfach geglaubt und gehofft 
hatte, es werde das die russische Kampfkraft lähmen, 
so wurde diese Hoffnung gründlich getäuscht, über- 
Haupt ging im ersten Teile des Krieges keine einzige 
der Hoffnungen auf Selbstzersetzung des russischen 
Heeres und Staates in Erfüllung, die von den so- 
genannten Kennern Nußlands dem deutschen Volke 
eingeflößt worden waren. Das geknechtete Polen 
erhob sich nicht, wie die halbe Welt erwartet hatte, 
denn die Russen hatten alle Verdächtigen nach Sibirien 
oder in die Kerker gebracht, und die Masse lebte in 
dumpfer Furcht vor der Knute. In Petersburg und 
den anderen großen Städten brach nicht der Aufruhr 
aus, soudern, dank der ungeheueren Verlogenheit der 
Presse, die alles Ungünstige verschwieg und von großen 
Siegen zu fabeln wußte, war die Bevölkerung der 
Städte sogar in eine gewisse Kriegslust hiueingehetzt 
worden. Hätte das russische Volk seine wahrhaft 
furchtbaren Verluste im Felde erfahren, so wäre der 
Ausbruch von Unruhen wohl unvermeidlich gewesen. 
Aber von der grauenvollen Menschenvergeudung, die 
der regierende Großfürst betrieb, erfuhren schon die 
Städter sehr wenig, und woher sollte nun vollends 
das arme, des Lesens unkundige Landvolk etwas 
davon erfahren! Wer in Deutschland von den großen 
Schlägen in Ostpreußen und Polen erwartet hatte, 
daß sie das russische Volk aufrütteln und zu großen 
Umwälzungen veranlassen würden, der hatte nicht 
gerechnet mit der ungeheuren Unwissenheit und Stumpf- 
heit, die Väterchens Untertanen zum größten Teile 
auszeichnen. Diese beiden Eigenschaften des Volkes 
retteten die hohe russische Gesellschaft vor der Revolution 
und das russische Heer vor dem völligen Zerfallen. 
Denn der russische Soldat ließ sich treiben, wohin 
ihn sein Vorgesetzter treiben wollte, und wenn er 
heute vor den Deutschen hatte fliehen müssen, so 
trottete er morgen oder übermorgen dem Feinde 
schon wieder entgegen, wenn ein energischer General 
da war, der ihn dazu zwang. Das erklärte mehr 
als alles andere die fast ans Wunderbare grenzende 
Fähigkeit geschlagener Russenheere, sich schnell wieder 
zu sammeln und nach unglaublich kurzer Zeit deu 
Widerstand fortzusetzen, ja sogar wieder zum Angriffe 
vorzugehen. Eindrücke, die Truppen lebhafterer Völker, 
z. V. der Franzosen, auf lange Zeit demoralisiert 
Hütten, übten auf die stumpfsinnige Seele des russischen 
Soldaten keine Wirkung aus. Ein solches Soldaten- 
Material ist zwar zum Angriffe nicht besonders geeignet, 
in Verteidigungsstellung aber kaum zu besiegen. Hätte 
also das russische Heer einen begabten Feldherrn, 
fähige Generale und ein tüchtiges Offizierkorps gehabt, 
so wäre es bei seiner gewaltigen Überlegenheit an 
Zahl trotz aller Genialität des deutschen Führers 
und aller Tüchtigkeit der deutschen Truppen höchst- 
wahrscheinlich siegreich gewesen. Aber der brutale 
Gewaltmensch an seiner Spitze war überhaupt kein 
Feldherr, geschweige denn ein begabter. Die Generale 
taugten zum größten Teile nichts, und welcher Art 
das Offizierkorps war, das möge ein Telegramm 
klar machen, das der russische General Iwanow 
Anfang Februar an seinen Waffenbruder, den General 
Scheidemann, gesandt hatte und das von deutschen 
Truppen aufgefangen ward. Es lautete: 
„Während meiner Anwesenheit in Warschau sah ich auf 
den Straßen der Stadt eine ungewöhnlich große Anzahl von 
Offizieren, Militärärzten und Militärbeamten, die hauptsäch¬ 
lich mit Frauen promenierten. Dies beweist die Untätigkeit 
dieser Militärs, einen vollständigen Mangel an Pflichtbewußt- 
sein und mangelnde Aufsicht seitens der Vorgesetzten, die eine 
solche Entfernung vom Dienste zulassen. Diese Ungehörigkeit 
hat von morgen an zu unterbleiben. Sämtliche Offiziere haben 
sich sofort zu ihren Truppenteilen zu begeben, wo sie sich be- 
ständig aufzuhalten haben. Sie dürfen nicht vergessen, daß 
wir uns jetzt in einem Kriege befinden. Die kommandolosen 
Offiziere sind spätestens morgen zur Verfügung des Konunan- 
danten meines Stabes zu stellen zwecks Kommandierung zu 
den Ersatz brauchenden Truppenteilen. Alle Offiziere und 
Militärbeamte haben während der Kriegszeit die Mannschaften 
auszubilden oder ihren sonstigen Dienst zu versehen. Die freien 
Stunden der Erholung sind bei den Truppenteilen zu ver- 
bringen. Alle Ausschreitungen müssen vermieden werden, um 
nicht den Truppen ein böses Beispiel zu geben und das Ver- 
trauen zu untergraben." 
Ein Zufall wollte es, daß fast zu gleicher Zeit ein 
Armeebefehl des russischen Höchstkommandierenden in 
die Hände der deutschen Truppen fiel. Auch er ist 
für den Geist des russischen Offizierkorps ganz außer- 
ordentlich bezeichnend. Es hieß darin: 
„Seine Kaiserliche Hoheit hat seine Aufmerksamkeit darauf 
gerichtet, daß in der ganzen Kriegsperiode einige Korps und 
Divisionen eine große Anzahl Geschütze und Maschinengewehre 
verloren haben, wobei die Höhe der Verluste nicht immer der 
Gefechtslage entsprochen hat. Seine Kaiserliche Hoheit befiehlt 
aus diesem Grunde, die Kommandeure der Truppenteile darauf 
aufmerksam zu machen, daß es notwendig sei, das Kriegs- 
Material etwas mehr zu schonen wegen der Schwierigkeit seines 
Ersatzes, und weil es äußerst unerwünscht ist, daß unsere Gegner 
durch das Zurücklassen unserer Geschütze und Maschinengewehre 
bereichert werden. Gleichzeitig befiehlt Seine Kaiserliche Hoheit, 
alle Kommandeure, die sich einer ungenügenden Schonung des 
Geschütz- und Maschinengewehrmaterials schuldig machen, in 
Strafe zu nehmen." 
Der schreckliche Mangel an Pflicht- und Ehrgefühl, 
an dem das russische Offizierkorps zum allergrößten 
Teile krankte, wird durch die beiden Erlasse grell be- 
leuchtet. Auf noch ganz andere Gefahren wies ein 
Geheimprozeß hin, der in Petersburg und Odessa vom 
22«
	        
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