Auch eine ungeheuere Erhöhung des Soldes half nicht
viel, obwohl Hunderttausende armer Teufel in London
und in anderen großen Städten saßen und nicht
wußten, wovon sie sich nähren sollten, da sie infolge
des Krieges brotlos geworden waren. Die Masse des
englischen Volkes war nun einmal nicht für das
Kriegswesen zu begeistern. Sie strömte dahin, wo
Fußballspiele stattfanden, um zu gaffen und zu wetten.
Zog dagegen ein Regiment Soldaten durch die Straßen,
so nahm von den Vaterlandsverteidigern kaum ein
Mensch Notiz. Der Krieg wurde wohl von der Re-
gierung, nicht aber vom Volke so ernst genommen, wie er
wirklich war. Erst als ein deutsches Geschwader einen
Ort an der engli-
schen Ostküste be-
schössen hatte (3. No-
vember), fuhr das
Volk bestürzt aus wie
aus einem Traume
erwachend, sank aber
sehr bald wieder in
seine Gleichgültigkeit
zurück. Das war
nicht verwunderlich,
denn es erfuhr die
Wahrheit über seine
Lage nicht, sollte
und durfte sie nicht
erfahren. Die Zei-
tungen redeten ihm
täglich vor, daß alles
gut gehe. Schlappen
und Niederlagen, die
England oder seine
Verbündeten erlit-
ten, wurden ent-
weder gar nicht er-
wähnt oder als klein
und belanglos hin¬
gestellt. In Frank-
reich stand nach den
Zeitungsnachrichten
alles gut. Die ver-
einigten Heere mach-
ten Tag für Tag
Fortschritte gegen die Deutschen, und ging einmal eine
Stellung verloren, so hatte das nichts zu bedeuten.
Die Deutschen drangen ja doch nicht nach Calais durch,
und der ganze Kampf in Flandern und Frankreich
hatte ja eigentlich nur den Zweck, sie solange hinzu-
halten, bis die Russen vor Berlin standen und somit
das deutsche Westheer zum Heimzuge nötigten. Von
Hindenburgs gewaltigen Siegen, von der Zertrüm-
merung ganzer russischer Heere wurde nur ganz lang-
sam Einiges bekannt und nie etwas Bestimmtes. In
London wie in Paris träumte man bis in den November
hinein noch immer von der riesigen russischen Dampf-
walze, die über Deutschland hingehen und es zerquet-
schen werde. Warum sollte ein Volk, das von seiner
Phantastische Vrandruinen in Lille.
Nach einer Zeichnung des Sonderzeichners der „Jllustrirten Zeitung" Professor Hans v.Hayel
eigenen Regierung belogen und in falsche Sicherheit
gewiegt wurde, seinen Gewohnheiten entsagen und zu
den Waffen greifen? Ganz besonders töricht mußte
das vielen erscheinen, nachdem die Regierung starke
Truppenmassen aus den Kolonien auf den Kriegs-
schauplatz geworfen hatte, deren kriegerische Tüchtig-
keit täglich in den Zeitungen gelobt und gepriesen
wurde. Es kamen Tausende von Kanadiern übers
Meer, um England zu helfen. Ägyptische und in-
dische Truppen wurden massenhaft verladen, um nach
Frankreich zur Schlachtbank geführt zu werden. Hindus
und Mohammedaner wurden aufgeboten gegen die
verwünschten Deutschen. Indianer und Nordameri-
kaner und die wil-
den Stämme der
Sikhs und Gurkhas
wurden von der
französischen Presse
mit besonderem Ju-
bei begrüßt, denn
auf ihre grausame
Blutgier und totver-
achtende Tapferkeit
setzten die verbün-
deten Völker die
größten Hoffnun-
gen. Das ritterliche
Frankreich konnte
hinter dem gottseli-
gen England nicht
Zurückstehen, wenn
es galt, Kulturnatio-
nen gegen die „Hun-
nen" und „Barba¬
ren" ins Feld zu
führen. Es über-
trumpfte sogar die
Freunde an der
Themse, indem es
Halbraubtiere, echte
Neger vom Senegal,
gegen die deut-
schen Schützengrä-
ben Sturm laufen
ließ. Mit Recht fragte
ein deutsches Witzblatt, ob nun die glorreiche Republik
auch die Gorillas und Paviane auf den Feind los-
lassen wolle.
Das alles hatte aber nur den Erfolg, daß die
beiden Länder ihren Namen mit Schmach beluden,
denn so tapfer auch die fremdrassigen Truppen für
ihre Unterjocher und Bedrücker kämpften, so wenig
vermochten sie den Gang der Dinge irgendwie zu
ihren Gunsten zu wenden, und als dann Herbst und
Winter kamen, da zeigte es sich, daß die Kinder
Afrikas und Asiens das nordische Klima nicht ver-
trugen. Seuchen und Krankheiten räumten schrecklich
auf in ihren Reihen. Sie mußten allmählich alle
aus der Kampffront entfernt und in die Lazarette
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