Norden. Rennenkampf hatte seine geschlagene Armee
bei Grodno wieder soweit hergestellt, daß er Anfang
Oktober von neuem vorgehen konnte. Das war immer-
hin eine sehr beachtenswerte militärische Leistung,
denn das Russenheer war stark mitgenommen und
sehr entmutigt. Der Name Hindenburg hatte für
das Ohr des gemeinen Soldaten schon einen schreck-
lichen Klang erhalten. Das abergläubische Kriegs-
volk des Zaren erzählte sich, er sei kein Mensch, son-
dern ein dämonisches Wesen. Manche sollen ihn sogar
für ein furchtbares Kriegsmittel gehalten haben, das
die bösen Deutschen zur Massenoernichtung des Russen-
volkes erfunden hätten. Mit einer solchen Armee war
es schwer, zu siegen, und ihr General hat ja auch wahr-
lich keine Lorbeeren mit ihr gepflückt, aber er hat es
doch verstanden, allerdings erst nach Zuzug namhafter
Verstärkungen, sie wieder gegen den Feind zu führen.
Am 1. Oktober drang die russische Heeresmacht
gegen Ostpreußen vor, der linke Flügel bewegte sich
von Grodno aus auf Augustowo, das Zentrum stieß
aus Suwalki vor, der rechte Flügel suchte von Korno
heranmarschierend bei Schirrwindt einzudringen, aber
nirgendwo hatten die Russen Glück. Am 3. Oktober
erlitten sie bei Augustowo eine schwere Niederlage,
büßten 3000 Gefangene, 18 Geschütze und eine große
Anzahl von Maschinengewehren ein und mußten sich
in voller Flucht zurückziehen. Vor Suwalki wurden
sie am 5. Oktober zurückgeworfen und verloren 2700
Gefangene. Auch bei Schirrwindt erlitten sie eine
Niederlage und ließen 1000 Gefangene in den Händen
der Deutschen (10. Oktober). Zwei Tage später und
dann noch einmal am 14. Oktober versuchten sie
wieder hier durchzubrechen, das eine Mal verloren
sie dabei 1500 Gefangene und 20 Geschütze, das andere
Mal 3000 Gefangene, 26 Geschütze und 12 Maschinen-
gewehre. Auch ihre beiden Vorstöße auf Lyck hatten
nur vorübergehenden Erfolg, am 8. Oktober mußten
sie zum ersten Mal, am 14. Oktober zum zweiten
Mal daraus entweichen, wobei ihnen 800 Gefangene
abgenommen wurden. Der Rennenkampfsche Angriff
auf Ostpreußen war zusammengebrochen, das Russen-
Heer ging überall zurück. Am 22. Oktober drängten
die Deutschen dem Teile des feindlichen Heeres nach,
das auf Ossowiecz zurückging, am 25. Oktober er¬
griffen sie bei Augustowo die Offensive.
Nur den ersten Teil dieser Kämpfe kann Hinden¬
burg noch persönlich geleitet haben, am 9. Oktober
brachten die Zeitungen die lakonische Nachricht, daß
die Spitzen des deutschen Heeres in Südpolen die
Weichsel erreicht hätten. Man wußte ja seit dem
4. Oktober, daß die deutschen Truppen in Südpolen
gemeinsam mit den Österreichern kämpften, aber nie-
mand hatte eine Ahnung davon, daß die Hauptmasse
des deutschen Ostheeres sich jetzt in Polen befand.
Der größte Teil der Hindenburgschen Armee war in
aller Stille nach Schlesien geschafft worden, drang
nun auf Warschau vor und erbeutete bei Grojec
2000 Gefangene. Am 15. Oktober meldete das
Große Hauptquartier:
„Der Angriff unserer in Polen Schulter an Schulter mit
dem österreichisch-ungarischen Heere kämpfenden Truppen be-
findet sich im Fortschreiten. Unsere Truppen stehen vor
Warschau. Ein mit etwa acht Armeekorps aus der Linie
Jwangorod-Warschau über die Weichsel unternommener
russischer Vorstoß wurde auf der ganzen Linie unter schweren
Verlusten für die Russen zurückgeworfen."
Von diesem Tage an wogte eine große Schlacht
in Polen hin und her. Uber ihre Einzelheiten brachten
die Zeitungen nur die allerkürzesten Berichte. Man
erfuhr nicht viel mehr, als daß sie im ganzen günstig
für die Deutschen stehe, die dicht an Warschau heran-
gedrungen waren. Das Schlachtfeld war auch hier
ein ungeheures. Es erstreckte sich von Nowo-
Georgiewsk bis Sandomir in dem Raum östlich der
Lysa-Gora und westlich der Weichsel besonders in
der Linie Skierniewice-Radom.
Das Ringen dauerte volle 14 Tage. Es brachte den
Deutschen große Verluste, den Russen noch weit größere,
und es führte zu keiner Entscheidung. Immer neue
Armeekorps führten die Russen über die Weichsel heran,
wie eine zähe Schlammflut schob sich die ungeheure
Masse vorwär ts, langsam aber unwiderstehlich. Zu einer
Umfassung dieser Riesenheere reichte die deutsche Macht
nicht aus, und wenn sie ausgereicht hätte, so waren weder
Bahnen, noch sonstige Transportmittel zur Hand, um
schnelle Truppenbewegungen zu ermöglichen. So
mußte Hindenburg der russischen Ubermacht weichen,
wie die Österreicher und Ungarn bei Lemberg hatten
weichen müssen. Am 27. Oktober kamen nördlich von
Jwangorod neue russische Korps über die Weichsel und
am 28. Oktober erkannte der deutsche Feldherr, daß
sein Heer in der Gefahr stand, an seinem linken Flügel
von feindlichen Kräften umfaßt zu werden, die von
Plozk und Nowo-Georgiewsk heranzogen. Da be-
schloß er den Rückzug, um sich der drohenden Ein-
kreisung zu entziehen. Es gelang ihm, seine Armee
ohne große Verluste vom Feind abzulösen und sie
auf die deutsche Grenze zurückzuführen. Dort wollte
er mit Hilfe des deutschen Vahnnetzes sein Heer neu
gruppieren Die Russen folgten erst einige Tage
später, langsam tastend und zögernd. Es war dem
deutschen Feldherrn offensichtlich gelungen, seine
Truppen so zu führen, daß der Feind die Fühlung
mit ihnen verloren hatte. Dieser Rückzug wurde
später von Sachverständigen als eines der größten
Meisterstücke der Kriegsgeschichte gepriesen.
Zum ersten Male wurde jetzt bei der Kunde dieses
Rückzuges noch ein anderer Name im Ostheer genannt,
der des Hindenburgschen Generalstabschefs von Luden-
dorff. Der erst in der Mitte der vierziger Jahre stehende,
glänzend befähigte Offizier hatte am Anfang des
Krieges an der Westfront gestanden und gehörte zu
den Lüttich-Stürmern. Hindenburg kannte ihn lange
schon und wußte, was in ihm steckte. Als der alte
General in Hannover an seinem Frühstückstisch sitzend
den kaiserlichen Auftrag erhalten hatte, die Führung der
Ostarmee zu übernehmen, da hatte er sich aus der Stelle
Ludendorff als Chef seines Stabes erbeten und sich da-
mit einen überaus wertvollen Mitarbeiter gesichert.
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