Volltext: Der Weltbrand Band 1 (1; 1915)

sich zwar mit dem Mute der Verzweiflung und legte 
eine Tapferkeit und Zähigkeit an den Tag, die be- 
wunderungswürdig war, aber der Zustand der Armee 
und des Landes wurde mit jedem Tage unerträglicher. 
Geldnot und Mangel an Lebensmitteln herrschten 
überall, auch an Munition begann es zu fehlen. So 
klang denn ein Notschrei nach dem anderen an das 
Ohr der Russen, und das trieb sie vorwärts, obwohl 
in dem ungeheuren Heere die Cholera wütete und 
bei dem schauderhaften Zustande des russischen Sanitäts- 
wesens die schwersten Opfer forderte. Sie traten den 
Zug nach Westen an, natürlich mit der Langsamkeit, 
die allen russischen Offensivbewegungen eigen ist. Da- 
bei war Przemysl im Wege, denn, wenn auch das 
Russenheer daran vorbeiziehen konnte, so durfte es 
die starke Festung doch nicht in seinem Rücken lassen. 
Darum sollte es von den russischen Massen über- 
rannt und nach furchtbarer Beschießung erstürmt wer- 
den, also ein Schicksal haben wie Lüttich. Aber was 
dem Jupiter erlaubt ist, das ist bekanntlich anderen 
lebenden Wesen nicht erlaubt. Der russische Führer 
war kein Emmich, und in der Festung komman- 
dierte kein belgischer Gouverneur, sondern ein höchst 
tatkräftiger, umsichtiger und tapferer Offizier, der 
Feldmarfchalleutnant Kusmanek, und die Truppe, 
die unter seinem Befehl stand, erwies sich als eine 
Schar von Helden. Die Russen erreichten nichts, 
obwohl sie die Festung Tag und Nacht beschossen 
und Sturm auf Sturm unternahmen. Wohl noch 
niemals in der Weltgeschichte hat ein solches Morden 
und Würgen um eine Festung stattgefunden wie um 
Przemysl. Nachdem Tausende von Russen bei dem 
vergeblichen Stürmen ihr Leben eingebüßt hatten, 
wobei zuweilen Hunderte auf einmal durch Flatter- 
minen in die Lust gesprengt wurden, wollten die 
Scharen nicht mehr vorwärts gehen in den sicheren 
Tod. Da ließen die Führer Maschinengewehre im 
Rücken der eigenen Bataillone auffahren und trieben 
sie dadurch vorwärts, denn den russischen Großfürsten 
oder General kümmert das armselige Menschenmaterial 
nicht, das er kommandiert. Das Volk muß sich's zur 
Ehre schätzen, für Väterchen zu sterben, und es ist 
ja im Überfluß vorhanden! Die so vorwärts Getrie- 
benen fochten dann allerdings wie Verzweifelte, denn 
sie sahen vor sich und hinter sich den Tod. Eine 
große Menge der bedauernswerten Menschen verfielen 
dabei dem Wahnsinn; die Österreicher wunderten 
sich über den hohen Prozentsatz von Wahnsinnigen 
unter denen, die sie zu Gefangenen machten. Aber 
das alles führte nicht zum Ziele, obschon die Russen 
hie und da bis in die Laufgräben der Festung ge- 
langten und erst nach mörderischen Einzelkämpfen 
wieder hinausgeworfen werden konnten. Przemysl 
hielt sich, und die russischen Führer sahen sich ge- 
nötigt, am 9. Oktober das Stürmen einzustellen. Ein 
österreichisch-ungarisches Ersatzheer war herangerückt 
und suchte in schweren und erfolgreichen Kämpfen 
der belagerten Festung Hilfe zu bringen, durchbrach 
und zersprengte an mehreren Stellen die russische 
Umfassungslinie und warf Verstärkungen hinein. Am 
15. Oktober zogen die Russen ganz ab, nachdem sie 
vor den Wällen der unbezwungenen Feste über siebzig- 
tausend Menschen nutzlos aufgeopfert hatten. 
Nicht nur die Erfolge des Ersatzheeres und die 
Fortschritte der Verbündeten in Polen zwangen sie 
dazu, den westlichen Teil Galiziens wieder zu räumen, 
sondern vielmehr noch die Cholera, die ihre Reihen 
lichtete, und am meisten der Munitions- und Proviant- 
mangel, der eingetreten war. Jetzt rächten sich alte 
russische Sünden. Die Petersburger Machthaber hatten 
den Bahn- und Wegebau in Polen absichtlich ver- 
nachlässigt. Sie hatten es nicht gewollt, daß die un- 
sichere Provinz einen großen kulturellen Aufschwung 
nähme, nun mußten sie die bitteren Früchte ihrer 
Handlungsweise ernten. Die wenigen Bahnstrecken, 
die vorhanden waren, reichten nicht dazu aus, ein Heer 
von einigen Millionen Menschen und hunderttausend 
Pferden mit allem Nötigen zu versehen. Zerstörten nun 
gar die von Westen hervordringenden Deutschen eine 
der Bahnen — und dem verwünschten Hindenburg und 
seinen Leuten war ja alles zuzutrauen —, so konnte 
das Russenheer in die fürchterlichste Lage geraten. 
Ebenso wenig vom Glück begünstigt waren ihre 
Versuche, über die Karpathen nach Ungarn einzu- 
dringen. An mehreren Stellen unternahmen sie den 
Übergang über das gewaltige Gebirge. Auf Schleich- 
wegen drangen sie am 4. Oktober am Uzsogerpaß in 
das Ungar- und Bergerkomitat ein, schlugen die 
ungarischen Truppen zunächst zurück und folgten 
ihnen bis Csontos. Dort aber erhielten die Ungarn 
Verstärkungen und bereiteten den Eindringlingen 
eine schwere Niederlage. Die Russen büßten mehrere 
Geschütze und Maschinengewehre ein, verloren über 
3000 Gefangene und flohen über den Paß in wilder 
Hast aus dem Lande. 
Den Hauptstoß richteten sie auf das Komitat Mar- 
maros. In Sziget, der Hauptstadt des Bezirkes, 
hatte ein halbes Jahr vorher der Aufsehen erregende 
Hochverratsprozeß stattgefunden, der es der Welt 
enthüllt hatte, wie Rußland auf öfterreichisch-ungari- 
schem Boden den Krieg vorbereitete. Kein Wunder 
also, daß sie hier den Eingang nach Ungarn suchten. 
In dem Komitat sind die Ruthenen in der Überzahl, 
auch 70000 Rumänen wohnen dort. Um diesen Teil 
der Bevölkerung für sich zu gewinnen, hielten die 
Russen strenge Manneszucht. Alles Plündern war bei 
schwerer Strafe verboten. Aber wenn sie gemeint 
hatten, die Ruthenen würden sie als Befreier be- 
grüßen, vielleicht sogar sich zu ihren Gunsten erheben, 
so sahen sie sich schwer enttäuscht. Verräter gab es 
ja und nicht wenige, ohne Verrat wäre überhaupt 
kein russisches Heer über die Karpathen gekommen. 
Aber der ruthenische Landsturm blieb seinem Fahnen- 
eide treu und fügte ihnen, vereint mit den ungari- 
schen Honved-Truppen, am 7. und 8. Oktober eine 
schwere Niederlage zu. Sziget, das sie schon besetzt 
hatten, mußten sie wieder räumen, und am 9. Oktober 
verließen sie in wilder Flucht das Komitat.
	        
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