Kindererziehung und Jugendkultur 1940 – 1960 53
vember 1942,18 kam also erst mit ca. 4 ? Jahren und ein Jahr nach der Ge-
burt seines ersten Halbbruders zu seiner Mutter.19
Über die Erziehung im Säuglingsheim „Mühle“ in Gallneukirchen und im
Evangelischen Waisenhaus/NSV Jugendheim Weikersdorf bei Gallneukir-
chen ist aus den Akten zu Othmar nichts zu erfahren. Die harten, gewaltsa-
men, „ertüchtigenden“ „Prinzipien“ der Heimerziehung während des Krie-
ges20 dürften in den Heimen des Evangelischen Diakoniewerkes Gallneukir-
chen durch die Weiterverwendung der Diakonissinnen auch nach der Über-
nahme durch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) abgemildert
gewesen sein. Das konnte freilich die Ermordung der Menschen mit körper-
licher und geistiger Behinderung, die in anderen Heimen der Diakonie in
Gallneukirchen lebten und arbeiteten, nicht verhindern.21
Nachdem er seine ersten Lebensjahre, die für die Entwicklung des Kindes
so entscheidend sind, im Säuglingsheim und im Kinderheim verbracht hatte,
kam Othmar in die Obsorge der Mutter. Die Fürsorger und Fürsorgerinnen
berichteten in den folgenden Jahren über die Klagen der Kindergärtnerinnen,
Hausbewohner und später der Volksschullehrerin, dass Othmar von der Mut-
ter schwer misshandelt würde. Von den Kindergärtnerinnen wurde von
„blauen Striemen am Gesäß und zerschundenem Gesicht“ berichtet,22 von
„Prügelspuren“ am ganzen Körper und dass die Mutter „wie immer bestrei-
tet“, Othmar geschlagen zu haben; „selbst das Kind gibt an, sich selbst ge-
stoßen zu haben.“23 Die Strafe galt dem Bettnässen des Vierjährigen, und
beides eskalierte in den folgenden drei Jahren, die „Missetat“ wohl durch die
„Erziehungsmaßnahme“ der Mutter und deshalb lediglich zu Hause. In der
ersten Klasse Volksschule (1944/45) wurde es nicht besser. Die Klassenleh-
rerin schrieb, das Kind „gibt zu keinen besonderen Klagen Anlaß. Der Schü-
ler faßt sehr schnell auf, kann gut lesen und schreiben. Er fügt sich, weil
Einzelgänger, schwer in die Gemeinschaft. [...] [Nach zwei Fehltagen] kam
der Junge mit auffallend geschwollenen und rotblau unterlaufenen Tränensä-
cken zur Schule. Auf meine Frage, wovon er diese entzündeten Stellen hätte,
gab er mir zur Antwort: ‚Die Mutter sagte, ich sei aus dem Bett gefallen.’
18 AStL, Fürsorgeakt Zecher, Abrechnungen über die Aufenthaltskosten
19 In den Fürsorgeakten wurde dennoch immer wieder behauptet, er sei von seiner Geburt an
bei der Mutter gewesen. Man könnte daraus schließen, dass die Fürsorgebeamten damals die
Folgen, die die Unterbringung des Säuglings und Kleinkindes im Heim für die Sozialisation
des Knaben hatte, nicht erkannten bzw. für nicht wesentlich hielten.
20 Vgl. Malina, Kindsein passim
21 Vgl. Ulrike Repolusk-Schüle, Euthanasie im Dritten Reich. Die Aktion T4 in Bethel und
Gallneukirchen (Dipl.arbeit Univ. Wien 1997)
22 AStL, Fürsorgeakt Zecher, Aktenvermerk des Jugendamtes, 10.3.1943
23 AStL, Fürsorgeakt Zecher, Aktenvermerk des Jugendamtes, 7.2.1944