Nr, 11
Nachrichte«
Se?re 3
sorge, sie schicken ihre „Gemeindearmen" in die sogenannte
Einlage. Und wenn sie eine Fürsorge haben, dann ist sie
vollständig unzureichend. Furchtbares Elend dort und da.
Kein Tag vergeht, der nicht zu berichten wüßte, daß
einer allein oder mit seiner Familie aus dieser Not ge¬
flüchtet ist, indem er zur Waffe griff und sie gegen sich
selbst richtete, den Gashahn öffnete usw. Jeder Menjch
lebt gerne und wenn das Leben noch so schwer ist und
erst dann wirft er es weg, wenn wirklich kein anderer
Ausweg mehr zu finden ist. Was müssen die Menschen
erleiden, bis sie den letzten Ausweg, der Not zu ent¬
fliehen, suchen?
Andere, die nicht sterben wollen, die aber nicht mehr
leben können, sie greifen nach einem anderen Mittel der
Verzweiflung: sie eignen sich widerrechtlich fremdes
Eigentum an, Kartoffeln, Kraut, Obst, um damit das
Leben noch erhalten zu können.
Doch das ist verboten, das steht im Widerspruch mit
den geheiligten Gesetzen des Privateigentums, weshalb
der „Dieb" in den Arrest wandern muß, um über seine
„Tat" nachdenken zu können. Für ihn, den „Dieb", ist die
Jnhaftsetzung eine soziale Fürsorge gewordeil. Er wird
versorgt, braucht sich weder um Wohnungsgeld, noch um
Kleider, Holz, Kohle und Lebensmitteln zu kümmern, er
ist für eine Zeit all dieser Sorgen enthoben
Anders ergeht es der Familie. Die Frau steht mit
ihren Kindern allein in der Welt, alle Sorgen und Küm¬
mernisse, die sie mit ihrem Manne redlich teilte, lasten
auf ihrer Schulter allein. Was soll die Frau beginnen?
Betteln darf sie nicht, Arbeit erhält sie keine, stehlen
darf sie nicht, die Gemeinde kann nicht ausreichend für
sie sorgen! Dazu lastet auf ihr und den Kindern der Makel
des „Diebes". Frau und Kinder werden geächtet, man
weicht ihnen aus, sie sind verfemt und verstoßen. Sie
sind eben nur kleine Menschlein, die gesellschaftlich nichts
bedeuten. Und wie oft werden solche Leute, die ihre Lage
nicht selbst verschuldet haben, als „arbeitsscheues Ge¬
sindel" bezeichnet!
Und doch sind sie nicht arbeitsscheue Menschen, son¬
dern nur unglückliche, die unschuldig der Fluch der Gegen-
wart getroffen hat, die trotz allem Wollen keine Arbeit,
kein Brot finden können. All diesen zu helfen wäre
menschliche Pflicht der Gesellschaft.
Grauenhaft ist das Elend, grauenhaft sind aber auch
die Menschen, die die Welt gestalten und fotnten, die die
Schuld on all dem Elend tragen.
In der ganzen Welt zeigte sich mit furchtbarer Deut¬
lichkeit, daß einzelne Menschen — sehr wenige im Ver¬
hältnis zur Masse — ihre Macht, ihre Stellung für ihre
eigenen Vorteile mißbrauchten auf Kosten des Volkes.
Doch sie Reiben ungeschoren, denn: Den kleinen Dieb
hängt man, den großen läßt man laufen.
Die Wer der KriegWmMe.
i>ie Zeitschrift „Le Erapouillot", deren kriegsfeind-
liche Einstellung nicht genug hervorgehoben werden kann,
hat in ihrer letzten Nummer einen Aufsatz über die „Irr-
tümlicherweise Füsilierten" herausgegeben.» Aus der
Fülle ungeheuren Materials sind ein paar Fälle heraus-
gegriffen worden, die in schauerlicher Weise die Gefahren
der Kriegsgerichte lebendig machen. Der nachstehende
Abschnitt „Vingre" ist dem Artikel Jean Galtier-Bois-
fisres entnommen. Die zitierten Briefe wurden aus dem
„Reveil du Nord" nachgedruckt.
„Am 27. November 1914 hielten ein Posten von zehn
Mann, kommandiert vom Korporal de Bogue, und zwei
Züge, kommandiert von den Korporalen Floch und Venat
des 278. Infanterie-Regimentes, einen Schützengraben
der ersten Linie. Um 5 Uhr abends drangen deutsche
Truppen ein und nahmen den Posten des Korporals de
Bogue gefangen. Die beiden restlichen Züge zogen sich
mit dem Chef der Sektion, Leutnant Poulaud, in die
zweite Linie zurück. Der Kompagniekommandant hielt
den Rückkehrenden eine strenge Strafpredigt und schickte
sie in die erste Linie zurück. Die beiden Züge begeben sich
sofort auf ihren alten Posten, wo sie vom Feinde weiter
nicht belästigt werden.
Der Oberst des 298. Regimentes hält es für seine
Aufgabe, den Vorfall zu melden. Die Division entsendet
einen Offizier mit der Order, eine Untersuchung einzu-
leite» und ein Exempel zu statuieren. Der Kommandant
hatte zuerst bestimmt, daß 24 Mann füsiliert werden
sollen, dann zwölf. Schließlich einigte man sich auf sechs.
Diese Zahl wird dem Kriegsgericht bekanntgegeben. Es
werden von 24 Mann sechs ausgelöst — Floch, Gay, Pe-
telet, Quinault, Blanchard und Durandet — und werden
am nächsten Morgen angesichts der Truppen erschossen.
Nachfolgend der Brief, den der Korporal Floch, Friedens-
ritb^«r an seine Frau richtete'
„Meine teuie Lucie, wenn Dich dieser Brief erreicht,
bin ich tot, füsiliert worden. Ich muß Dir sagen, warum:
Am 27. November, gegen 5 Uhr, nach einem heftigen
Bombardement, das zwei Stunden währte, wurden wir
in der Feuerlinie, gerade als wir unsere Suppe aßen,
von den Deutschen überfallen und gefangengenommen.
In einem Augenblicke allgemeiner Verwirrung gelang
es mir, zu entkommen. Ich folgte meinen Kameraden.
Nun bin ich angeklagt, meinen Posten angesichts des
Feindes verlassen zu haben. Wir waren gestern vierund-
zwanzig vor dem Kriegsgericht. Sechs sind zum Tode
verurteilt worden, darunter auch ich. Ich bin nicht schul-
diger als die anderen, aber es soll ein Exempel statuiert
werden. Mein Portefeuille samt Inhalt wird Dir zu-
geschickt. Ich schreibe diese letzten Worte in Eile, mit
Tränen in den Augen und unendlichem Kummer im
Herzen. Ich bitte Dich auf den Knien um Verzeihung
für den Schmer*, den ich Dir zufügen und die schreckliche
Situation, in die ich Dich bringen mußte. Verzeih' mir,
meine geliebte Lucie. Ich sterbe unschuldig, ich habe das
Verbrechen, dessen man mich bezichtigt, nicht begangen.
Wäre ich, statt den Deutschen zu entfliehen, in ihrer Ge-
fangenschast geblieben, hätte ich mein Leben gerettet.
Mit meinen letzten Gedanken bin ich bei Dir. Henri
Floch."
Der Brief des Infanteristen Quinault:
„Meine geliebte Frau, es sind die letzten Worte, die
ich an Dich richte. Für mich ist es zu Ende. Gs ist zu
schrecklich. Es ist irgend eine Geschichte in der Kompagnie
vorgekommen. Man hat uns vors Kriegsgericht gestellt
und sechs zum Tode verurteilt, darunter auch mich. Noch
etwas: ich möchte nach Ballon überführt werden. Ich bin
in Bingrs begraben. Der letzte Brief, geliebte Frau.
Letzter Brief, den ich schreibe, gestorben im 298. Infan-
terieregiment für eine Ursache, die ich nicht recht kenne.
Die Offiziere haben Unrecht und wir sind es, die es büßen
müssen. Die Ueberlebenden werden es bestätigen können.
Nie hätte ich gedacht, daß ich so sterben werde, noch dazu
wegen eines solchen Unsinns. So etwas ist noch nie da-
gewesen. Ich bin in Bingrs begraben. Vergiß nicht, daß
ich nach Ballon überführt werden will..
Nach dem Kriege hat der Kassationshof mit Dekret
vom 11. Februar 1929 die Verurteilung für ungültig
erklärt und die Rehabilitierung der Füsilierten angeord-
net. An die Witwen der Getöteten ist eine jährliche Pen»
sion von eintausend Franken auszuzahlen ...