Volltext: Nr. 11 1931 (Nr. 11 1931)

Nr, 11 
Nachrichte« 
Se?re 3 
sorge, sie schicken ihre „Gemeindearmen" in die sogenannte 
Einlage. Und wenn sie eine Fürsorge haben, dann ist sie 
vollständig unzureichend. Furchtbares Elend dort und da. 
Kein Tag vergeht, der nicht zu berichten wüßte, daß 
einer allein oder mit seiner Familie aus dieser Not ge¬ 
flüchtet ist, indem er zur Waffe griff und sie gegen sich 
selbst richtete, den Gashahn öffnete usw. Jeder Menjch 
lebt gerne und wenn das Leben noch so schwer ist und 
erst dann wirft er es weg, wenn wirklich kein anderer 
Ausweg mehr zu finden ist. Was müssen die Menschen 
erleiden, bis sie den letzten Ausweg, der Not zu ent¬ 
fliehen, suchen? 
Andere, die nicht sterben wollen, die aber nicht mehr 
leben können, sie greifen nach einem anderen Mittel der 
Verzweiflung: sie eignen sich widerrechtlich fremdes 
Eigentum an, Kartoffeln, Kraut, Obst, um damit das 
Leben noch erhalten zu können. 
Doch das ist verboten, das steht im Widerspruch mit 
den geheiligten Gesetzen des Privateigentums, weshalb 
der „Dieb" in den Arrest wandern muß, um über seine 
„Tat" nachdenken zu können. Für ihn, den „Dieb", ist die 
Jnhaftsetzung eine soziale Fürsorge gewordeil. Er wird 
versorgt, braucht sich weder um Wohnungsgeld, noch um 
Kleider, Holz, Kohle und Lebensmitteln zu kümmern, er 
ist für eine Zeit all dieser Sorgen enthoben 
Anders ergeht es der Familie. Die Frau steht mit 
ihren Kindern allein in der Welt, alle Sorgen und Küm¬ 
mernisse, die sie mit ihrem Manne redlich teilte, lasten 
auf ihrer Schulter allein. Was soll die Frau beginnen? 
Betteln darf sie nicht, Arbeit erhält sie keine, stehlen 
darf sie nicht, die Gemeinde kann nicht ausreichend für 
sie sorgen! Dazu lastet auf ihr und den Kindern der Makel 
des „Diebes". Frau und Kinder werden geächtet, man 
weicht ihnen aus, sie sind verfemt und verstoßen. Sie 
sind eben nur kleine Menschlein, die gesellschaftlich nichts 
bedeuten. Und wie oft werden solche Leute, die ihre Lage 
nicht selbst verschuldet haben, als „arbeitsscheues Ge¬ 
sindel" bezeichnet! 
Und doch sind sie nicht arbeitsscheue Menschen, son¬ 
dern nur unglückliche, die unschuldig der Fluch der Gegen- 
wart getroffen hat, die trotz allem Wollen keine Arbeit, 
kein Brot finden können. All diesen zu helfen wäre 
menschliche Pflicht der Gesellschaft. 
Grauenhaft ist das Elend, grauenhaft sind aber auch 
die Menschen, die die Welt gestalten und fotnten, die die 
Schuld on all dem Elend tragen. 
In der ganzen Welt zeigte sich mit furchtbarer Deut¬ 
lichkeit, daß einzelne Menschen — sehr wenige im Ver¬ 
hältnis zur Masse — ihre Macht, ihre Stellung für ihre 
eigenen Vorteile mißbrauchten auf Kosten des Volkes. 
Doch sie Reiben ungeschoren, denn: Den kleinen Dieb 
hängt man, den großen läßt man laufen. 
Die Wer der KriegWmMe. 
i>ie Zeitschrift „Le Erapouillot", deren kriegsfeind- 
liche Einstellung nicht genug hervorgehoben werden kann, 
hat in ihrer letzten Nummer einen Aufsatz über die „Irr- 
tümlicherweise Füsilierten" herausgegeben.» Aus der 
Fülle ungeheuren Materials sind ein paar Fälle heraus- 
gegriffen worden, die in schauerlicher Weise die Gefahren 
der Kriegsgerichte lebendig machen. Der nachstehende 
Abschnitt „Vingre" ist dem Artikel Jean Galtier-Bois- 
fisres entnommen. Die zitierten Briefe wurden aus dem 
„Reveil du Nord" nachgedruckt. 
„Am 27. November 1914 hielten ein Posten von zehn 
Mann, kommandiert vom Korporal de Bogue, und zwei 
Züge, kommandiert von den Korporalen Floch und Venat 
des 278. Infanterie-Regimentes, einen Schützengraben 
der ersten Linie. Um 5 Uhr abends drangen deutsche 
Truppen ein und nahmen den Posten des Korporals de 
Bogue gefangen. Die beiden restlichen Züge zogen sich 
mit dem Chef der Sektion, Leutnant Poulaud, in die 
zweite Linie zurück. Der Kompagniekommandant hielt 
den Rückkehrenden eine strenge Strafpredigt und schickte 
sie in die erste Linie zurück. Die beiden Züge begeben sich 
sofort auf ihren alten Posten, wo sie vom Feinde weiter 
nicht belästigt werden. 
Der Oberst des 298. Regimentes hält es für seine 
Aufgabe, den Vorfall zu melden. Die Division entsendet 
einen Offizier mit der Order, eine Untersuchung einzu- 
leite» und ein Exempel zu statuieren. Der Kommandant 
hatte zuerst bestimmt, daß 24 Mann füsiliert werden 
sollen, dann zwölf. Schließlich einigte man sich auf sechs. 
Diese Zahl wird dem Kriegsgericht bekanntgegeben. Es 
werden von 24 Mann sechs ausgelöst — Floch, Gay, Pe- 
telet, Quinault, Blanchard und Durandet — und werden 
am nächsten Morgen angesichts der Truppen erschossen. 
Nachfolgend der Brief, den der Korporal Floch, Friedens- 
ritb^«r an seine Frau richtete' 
„Meine teuie Lucie, wenn Dich dieser Brief erreicht, 
bin ich tot, füsiliert worden. Ich muß Dir sagen, warum: 
Am 27. November, gegen 5 Uhr, nach einem heftigen 
Bombardement, das zwei Stunden währte, wurden wir 
in der Feuerlinie, gerade als wir unsere Suppe aßen, 
von den Deutschen überfallen und gefangengenommen. 
In einem Augenblicke allgemeiner Verwirrung gelang 
es mir, zu entkommen. Ich folgte meinen Kameraden. 
Nun bin ich angeklagt, meinen Posten angesichts des 
Feindes verlassen zu haben. Wir waren gestern vierund- 
zwanzig vor dem Kriegsgericht. Sechs sind zum Tode 
verurteilt worden, darunter auch ich. Ich bin nicht schul- 
diger als die anderen, aber es soll ein Exempel statuiert 
werden. Mein Portefeuille samt Inhalt wird Dir zu- 
geschickt. Ich schreibe diese letzten Worte in Eile, mit 
Tränen in den Augen und unendlichem Kummer im 
Herzen. Ich bitte Dich auf den Knien um Verzeihung 
für den Schmer*, den ich Dir zufügen und die schreckliche 
Situation, in die ich Dich bringen mußte. Verzeih' mir, 
meine geliebte Lucie. Ich sterbe unschuldig, ich habe das 
Verbrechen, dessen man mich bezichtigt, nicht begangen. 
Wäre ich, statt den Deutschen zu entfliehen, in ihrer Ge- 
fangenschast geblieben, hätte ich mein Leben gerettet. 
Mit meinen letzten Gedanken bin ich bei Dir. Henri 
Floch." 
Der Brief des Infanteristen Quinault: 
„Meine geliebte Frau, es sind die letzten Worte, die 
ich an Dich richte. Für mich ist es zu Ende. Gs ist zu 
schrecklich. Es ist irgend eine Geschichte in der Kompagnie 
vorgekommen. Man hat uns vors Kriegsgericht gestellt 
und sechs zum Tode verurteilt, darunter auch mich. Noch 
etwas: ich möchte nach Ballon überführt werden. Ich bin 
in Bingrs begraben. Der letzte Brief, geliebte Frau. 
Letzter Brief, den ich schreibe, gestorben im 298. Infan- 
terieregiment für eine Ursache, die ich nicht recht kenne. 
Die Offiziere haben Unrecht und wir sind es, die es büßen 
müssen. Die Ueberlebenden werden es bestätigen können. 
Nie hätte ich gedacht, daß ich so sterben werde, noch dazu 
wegen eines solchen Unsinns. So etwas ist noch nie da- 
gewesen. Ich bin in Bingrs begraben. Vergiß nicht, daß 
ich nach Ballon überführt werden will.. 
Nach dem Kriege hat der Kassationshof mit Dekret 
vom 11. Februar 1929 die Verurteilung für ungültig 
erklärt und die Rehabilitierung der Füsilierten angeord- 
net. An die Witwen der Getöteten ist eine jährliche Pen» 
sion von eintausend Franken auszuzahlen ...
	        
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